Interne Emails der „AG Impfpflicht“ freigeklagt
Meine IFG-Klage war erfolgreich: Mir wurden 987 Seiten interner Emailverkehr der "AG Impfpflicht“ ausgehändigt. Ich veröffentliche hiermit das gesamte Dokument.

Im Februar 2025 kam durch die Protokolle des RKI-Krisenstabs die Existenz eines weiteren Gremiums ans Tageslicht: Die sogenannte „AG Impfpflicht“. Es handelte sich hierbei um eine interministerielle Arbeitsgruppe, die im Winter 2022 den Gesetzesentwurf zu einer allgemeinen Impfpflicht vorbereitete. Sie bestand aus Abgeordneten der damaligen Regierungsfraktionen SPD, Grüne und FDP, unter der Federführung des damaligen Gesundheitsministers Karl Lauterbach. Eine breite Auswahl an Ministerien und Behörden war eng in die Vorbereitung des Gesetzesentwurfs eingebunden. Die Leitung der AG oblag der BMG-Unterabteilung 61 “Gesundheitssicherheit”, und fiel damit in das Ressort von Heiko Rottmann-Großner, einer Schlüsselgestalt der Corona-Maßnahmen in Deutschland.
Seit Februar 2025 läuft meine IFG-Anfrage zu den Dokumenten der AG Impfpflicht. Weil das RKI darauf nicht reagierte, reichte ich Klage beim Verwaltungsgericht Berlin ein. Vor wenigen Tagen wurde mir seitens des RKI ein Datensatz von 987 PDF-Seiten Emails und Email-Anhängen ausgehändigt. Laut RKI seien Emails, jedoch keine Sitzungsprotokolle oder sonstiges Material zur AG Impfpflicht vorhanden.
Die Emails der „AG Impfpflicht“ zum Download
Alle Anwalts- und Gerichtskosten zum Erhalt der Dokumente der “AG Impfpflicht” habe ich privat verauslagt. Ich bedanke mich herzlich für eure Unterstützung!
Überweisung: Aya Velázquez, DE91 4306 0967 1115 8962 01
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Das RKI hatte mir angeboten, den Emailverkehr zur AG Impfpflicht mit geschwärzten Namen Dritter an mich herauszugeben - anderenfalls müsste noch ein sogenanntes Drittbeteiligungsverfahren durchgeführt werden, in dem alle Betroffenen einzeln angefragt werden, ob sie einer Offenlegung ihres Namens zustimmen. Erfahrungsgemäß kann sich ein solches Verfahren lange hinziehen, und führt selten zum gewünschten Ergebnis, weshalb ich mich mit den Schwärzungen einverstanden erklärt habe. Im vorliegenden Datensatz wurden erfreulicherweise nur Absender- und Empfängernamen geschwärzt - der Inhalt der Emails und Dokumente wurde ungeschwärzt herausgegeben.
Das Konvolut umfasst den Zeitraum vom 13. Dezember 2021 bis zum 05. April 2022 - bis zwei Tage vor der Abstimmung zur allgemeinen Impfpflicht im Bundestag. Neben behördlichen Emails sind auch zahlreiche Email-Anhänge in Form von PDF-Dokumenten enthalten, etwa das Österreichische Gesetz zur Covid-19-Impfpflicht, Entwurfsfassungen des Gesetzes zur allgemeinen Impfpflicht mit Randkommentaren der Ministerien, sowie die Gesetzesentwürfe anderer Fraktionen. Aus den Emails geht hervor, dass Karl Lauterbachs BMG, genauer gesagt die BMG-Unterabteilung 61 “Gesundheitssicherheit“, die AG Impfpflicht koordinierte. Zwar sind in den Dokumenten sämtliche Namen geschwärzt, doch die Unterabteilung 61 wurde von 2018 bis Mai 2025 von Heiko Rottmann-Großner geführt, einer schillernden wie diskreten Gestalt, über die wenig öffentlich bekannt ist. Jens Spahn hatte während der Corona-Zeit die Unterabteilung “Gesundheitssicherheit” zu einer richtigen Abteilung ausgebaut - die höchste Leitungsebene im BMG. Zum Leiter der Abteilung 6 wurde während der Corona-Jahre von Spahn der Bundeswehrgeneral Hans-Ulrich Holtherm eingesetzt - dieser war aber nur bis Dezember 2021 im Amt. Zur Zeit der Tätigkeit der “AG Impfpflicht” Anfang 2022 wurde Abteilung 6 von Dr. Ute Teichert geführt - formal zuständig war jedoch Heiko Rottmann-Großner, Leiter der Unterabteilung 61.

Rottmann-Großner gilt als ein Strippenzieher hinter Lockdowns und Ausgangsbeschränkungen. Er ist Politikwissenschaftler und Major der Reserve der Bundeswehr. In die Politik hochgearbeitet hatte er sich Anfang der 2000er Jahre als Mitarbeiter im Büro der damaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Hildegard Müller, einer Ex-Bankerin und engen Merkel-Vertrauten. Der ehemalige Spiegel-Chefredakteur Georg Mascolo und seine Frau, die Stern-Journalistin Katja Gloger, berichteten in ihrem Buch „Ausbruch – Innenansichten einer Pandemie“ von Rottmann-Großners Aussagen am 24. Februar 2020 im Innenministerium, kurz vor dem ersten Lockdown, im Beisein von Jens Spahn und zahlreichen weiteren Staatssekretären und Beamten:
“Als die Beamten aus dem Innenministerium wissen wollen, was ‚Mitigation‛ genau bedeute, übernimmt Rottmann-Großner. Man müsse die Vorkehrungen dafür treffen, dass es zu Ausgangssperren von unbestimmter Dauer komme. Man müsse auch, wie es später in einem Vermerk über das Gespräch heißen wird, ‚die Wirtschaft lahmlegen sowie die Bevölkerung auffordern, sich Lebensmittelvorräte und Arzneimittelvorräte anzulegen‛. ‚Lockdown‛ wird so etwas bald genannt werden, aber an diesem Rosenmontag wird noch ein anderes Wort verwendet: Es lautet ‚Abschaltung‛.“
Wie das Magazin Multipolar in seinem lesenswerten Artikel “Wie der Lockdown nach Deutschland kam” berichtete, hatte Rottmann-Großner bereits am 14. Februar 2019 an einem weitgehend unbekannten Pandemieplanspiel in München teilgenommen, am Vorabend der Münchner Sicherheitskonferenz. Mit dabei waren weitere hochrangige Funktionäre aus der Welt der “Biosecurity”, etwa Chris Elias von der Bill and Melinda Gates Stiftung, Tim Evans, der Mitbegründer von GAVI, Jeremy Farrar, der Leiter des Wellcome Trust, und niemand Geringeres als Gro Harlem Brundtland, der ehemaligen norwegischen Ministerpräsidentin, nach der die “Brundtland-Kommission” (1987) benannt wurde, ehemalige WHO-Generaldirektorin und heute im Vorstand des “Global Preparedness Monitoring Board”. Wir können festhalten: Der Mann, dessen Abteilung im BMG den Gesetzesentwurf zur allgemeinen Impfpflicht koordinierte, ist international recht gut vernetzt.

Heiko Rottmann-Großner ist zudem Lothar Wielers Vorgesetzter: Als im Herbst 2023 der ehemalige RKI-Chef Lothar Wieler im Corona-Untersuchungsausschuss des Landes Brandenburg angehört wurde, wurde ihm Rottmann-Großner als “Aufpasser” an die Seite gestellt, damit sich Wieler an seine Aussagegenehmigung hielt. Wie der Nordkurier berichtete, schob Rottmann-Großner Wieler gleich bei der ersten Frage heimlich einen Zettel zu - bei einer anderen Frage machte er Handzeichen. Daraufhin mussten die beiden auseinandergesetzt werden, da es sich hierbei um eine illegitime Zeugenbeeinflussung handelte.

Die AG Impfpflicht tauschte sich in Videokonferenzen und dem vorliegenden Emailverkehr aus, in dem eine breite Auswahl mitwirkender Ministerien und Behörden auftaucht: Das Robert-Koch-Institut (RKI), das Paul-Ehrlich-Institut (PEI), das Bundesinnenministerium (BMI), das Bundesjustizministerium (BMJ), das Auswärtige Amt (AA), der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), das Bundesfamilienministerium (BMFSFJ), das Bundeswirtschaftsministerium (BMWi), sowie der Bundesdatenschutzbeauftragte.
Wie aus den Emails hervorgeht, übermittelte die Gruppe von Abgeordneten aus SPD, Grünen und FDP, die eine allgemeine Impfpflicht plante, am 21. Januar 2022 einen umfangreichen Fragenkatalog an das Bundesgesundheitsministerium (BMG). Das BMG markierte im Fragebogen, welche Behörde sich zu welcher Frage äußern sollte, und leitete ihn anschließend an die entsprechenden Stellen weiter. Die Abgeordneten interessierten sich insbesondere für die praktische Durchführbarkeit der allgemeinen Impfpflicht:
„Welche weiteren Vollzugsmöglichkeiten nach erfolgtem Bußgeldbescheid und jenseits einer Erzwingungshaft kommen für die Durchsetzung der Impfpflicht in Betracht? Inwieweit kann das Bußgeld in Abhängigkeit von der Einkommenshöhe ausgestaltet werden? (.) Wie häufig müsste bzw. dürfte ein Bußgeld verhängt werden, ist dies nur einmal angezeigt oder auch mehrmals möglich oder geboten?“ (S. 44/ 45)
Die Abgeordneten stellten in ihrem Fragebogen auch Überlegungen an, auf wen die allgemeine Impfpflicht alles ausgeweitet werden müsste: Ob sie etwa “zulässig oder gar geboten” wäre für Menschen, die Deutschland nur kurzzeitig touristisch besuchen:
„Soweit eine Festlegung für Menschen in Deutschland über 18 wie beschrieben erfolgt: inwieweit wäre es zulässig oder gar geboten, diese Regelung auszudehnen auf alle in Deutschland befindlichen Menschen (.) mit Kontrolle bei Einreise: a) Erwerbstätige (Pendler, Geschäftsreisende)? b) Auszubildende/Studierende c) Einreise und Aufenthalt zu touristischen Zwecken?” (S.43)
Auch wurde ein „temporäres Register derjenigen, die keinen Nachweis einer Immunität erbracht haben“ von den Abgeordneten angedacht. Langfristig strebte man ein permanentes Impfregister an:
„Im weiteren Verfahren werden aus dem oben genannten Register, das alle gemeldeten Einwohner/ innen enthält, bis zum Stichtag diejenigen gestrichen, die den Nachweis einer Immunität erbringen. Es verbleiben nur diejenigen im Register, die diesen Nachweis nicht erbringen und die nach dem Stichtag mit einem Bußgeldverfahren belegt werden. Ziele der Maßnahmen: a. Steuerung des Übergangs der Corona-Pandemie zur endemischen Phase b. Realisierung einer möglichst hohen Grundimmunisierung der Gesamtbevölkerung gegen eine Corona-Infektion bzw. Corona-Erkrankung ohne Schaffung eines Impfregisters“ (S.45)
„Verzicht auf Impfregister (würde zu lange dauern)“
„Langfristig Impfregisterlösung erarbeiten - möglichst dezentral und datensparsam (z.B. an kommunalen Melderegistern angedockt)“ (S.48)
”Das definierte Ende der Maßnahmen nimmt allen den Wind aus den Segeln, die einen ausufernden und kontinuierlichen Impfzwang unterstellen.”
”Bei Bedarf kann das Verfahren im Jahr 2023 wiederholt bzw. ggf. modifiziert angewendet werden.” (S. 47)
Auf eine “Erzwingungshaft” wollte man großzügigerweise verzichten. In der Begründung für die allgemeine Impfpflicht sollte auch deren „positive Freiheitsbilanz“ beschrieben werden.
Die zwei Gesichter des RKI
Das RKI nahm in der AG Impfpflicht mehrfach Stellung und empfahl die allgemeine Impfpflicht ausdrücklich - obwohl es intern in seinem Krisenstab bereits am 12. Januar 2022 erste Zweifel an der allgemeinen Impfpflicht artikuliert hatte. Dabei stand die Erkenntnis im Zentrum, dass unter Omikron kaum mehr Fremdschutz gegeben war, sondern maximal Selbstschutz vor schwerer Erkrankung - aber man Menschen zum Selbstschutz nun einmal schwer zwingen kann:
„Diskussion zum Thema Impfpflicht
“RKI-Position war bisher die Befürwortung einer Impfplicht ab 18 Jahre (ohne weitere Überlegungen Stellungnahme zu Sanktionen), gibt es Gegenargumente? Umsetzung ist kompliziert: Impfregister? Über Meldeämter? Über Krankenkassen? (.) Omikron hat diesbezüglich einiges verändert. Verminderung der Transmission durch Impfung ist bei Omikron gering, die Verhinderung schwerer Verläufe jedoch sehr gut gegeben. Ein angepasster Impfstoff könnte die Wirkung auf die Transmission verbessern. Kontrolle/ Sanktionen sind schwierig, Sanktionen sollten locker gehandhabt werden, ggf. ohne zentrale Erfassung. Cosmo-Daten zeigen, dass viele Ungeimpfte sich nicht impfen lassen wollen, diese sollten vor sich selbst beschützt werden. Menschen zu Ihrem eigenen Wohl zu etwas zu zwingen, ist eher paternalistischer Ansatz, besser Empowerment (PH- Grundgedanke)? Impfung kommt für Omikron-Welle zu spät, aber auch danach wird keine Grundimmunität in der Gesamtbevölkerung vorhanden sein. (.) Kontrollwesen: „Das Bessere ist der Feind des Guten“ Erwartung an RKI ist: Transparenz bezüglich der Entscheidungsgrundlagen und -kriterien. Das Institut sollte keine Haltung zur Impfung einnehmen, sondern transparent die Grundlagen und mögliche Entscheidungskriterien kommunizieren (.) Entscheidung wird, sollte die Lage endemisch werden, sehr schwierig.“
In seiner Einschätzung gegenüber dem BMG und den Abgeordneten von SPD, Grünen und FDP im Rahmen der “AG Impfpflicht”, erwähnte das RKI seine Bedenken jedoch mit keinem einzigen Wort:
„Das RKI befürwortet eine partielle einrichtungsbezogene COVID-19-Impfpflicht. Darüber hinaus hält das RKI in der aktuellen Situation auch eine allgemeine COVID-19-Impfpflicht für notwendig. Die allgemeine Impfpflicht sollte für alle impffähigen Personen im Alter von mindestens 18 Jahre gelten und auf vorerst 1 Jahr befristet sein mit der Option auf eine Verlängerung.“ (S.81)
„Die Impfbereitschaft der ungeimpften Bevölkerung ist nicht ausreichend – Impfquoten werden sich freiwillig nicht viel weiter steigern lassen“ (.)
„dass es nach wie vor Menschen gibt, die eine Impfung – auch ohne Impfpflicht – in Anspruch nehmen würden. Dieser Anteil ist jedoch nicht groß genug, um die Impfquote ausreichend zu steigern.“
„Auch das oft genannte Argument auf einen „traditionellen Tot-Impfstoff“ warten zu wollen, wird diese Impfbereitschaft nicht wesentlich steigern können: die COSMO-Studie konnte zeigen, dass ungeimpfte Befragte zwar eine höhere Impfbereitschaft angeben, wenn ihnen ein „traditioneller Totimpfstoff“ angeboten wird. Allerdings gilt das nur, wenn die Entscheidung über eine Impfung in 6 Monaten getroffen wird – soll die Entscheidung schon nächste Woche erfolgen, ist die Impfbereitschaft signifikant geringer.“ (S. 83)
Auch appellierte das RKI an die „gesellschaftliche Verantwortung”, sich angesichts einer gesellschaftlichen Notlage “miteinander solidarisch zu zeigen“:
„Das Land befindet sich aktuell in einer Notlage, in der die Überlastung des Gesundheitssystems kurz bevorsteht. In dieser Notlage hält es das RKI für angemessen, an die Solidarität der Bürger:innen und die gemeinsame Verantwortung für die Bewältigung der Lage zu appellieren und zu verdeutlichen, dass diese Solidarität nicht nur allen zugutekommen soll sondern auch von allen gefordert wird.
Eine Mehrheit von fast 70 % der Bürger:innen hat diese Solidarität mit der Gemeinschaft gezeigt. Es scheint angezeigt diese ernst zu nehmen, anzuerkennen und zu zeigen, dass diese Solidarität gesamtgesellschaftlich getragen wird. Eine solche gesamtgesellschaftliche Solidarität bedeutet auch, dass auch bisher ungeimpfte Bürger:innen das geringe Risiko einer Impfung auf sich nehmen, um die Gemeinschaft zu schützen und durch die Gemeinschaft geschützt zu werden. Eine Impfpflicht im Sinne einer gesellschaftlichen Impfverantwortung zur Bewältigung einer Notlage hält das RKI daher für notwendig.“ (S.83)
Im RKI machte man sich auch Gedanken darüber, ob die Bevölkerung möglicherweise verärgert auf neue Pflichten reagieren würde: Menschen würden daraufhin oft dazu tendieren, sich ihre Freiheit in anderen Bereichen wieder zurückholen: Etwa, indem andere Impfungen nicht mehr wahrgenommen, oder „andere Regeln zur Pandemiebekämpfung“ nicht mehr eingehalten würden. Das RKI betrachtete es daher als essenziell, die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht mit einer „guten Kommunikation“ zu begleiten:
„Dies kann zum Beispiel getan werden, indem betont wird, dass es sich hier um einen Akt von Solidarität in einer Notlage handelt, dass es also legitime und zwingende Gründe gibt, eine solche Pflicht einzuführen. Solche Kommunikationsstrategien, die die kollektive Verantwortung für die Bewältigung einer Notlage betonen, können die Ablehnung gegenüber verpflichtenden Impfungen mindern. Es ist zudem davon auszugehen, dass Personen mit hohem institutionellem Vertrauen weniger Reaktanz gegenüber Impfpflichten zeigen. Wichtig ist daher auch eine kohärente und transparente Vorgehensweise mit klarer Kommunikation zu Ziel, Zweck, politischer Legitimierung und zeitlichem Ausblick einer solchen Maßnahme.“ (S.84)
Außerdem schlug das RKI vor, für einen „möglichst breiten gesellschaftlichen Konsens“ den Deutschen Ethikrat als „unabhängige und in der Bevölkerung als vertrauenswürdig wahrgenommene Institution einzubinden“ (S. 85).
Dies zeugt von einer bemerkenswerten Lebensferne der RKI-Funktionäre: Denn gerade der Teil der Menschen, den das RKI mittels „guter Kommunikation“ noch von der Impfung überzeugen wollte, nahm den Deutschen Ethikrat infolge zahlreicher fragwürdiger Äußerungen, unter anderem von der ehemaligen Ethikrat-Leiterin Alena Buyx, kaum mehr als „vertrauenswürdige Institution“ wahr.
Alena Buyx, die ehemalige Leiterin des Deutschen Ethikrats, über mRNA-Impfstoffe, die angeblich nach zwei Wochen im Körper zerfallen und nicht mehr nachweisbar sind, bei Markus Lanz am 03. Juni 2021

Das RKI gab auch zudem zu bedenken, dass eine Impfpflicht zwar kurzfristig das Verhalten der Bevölkerung ändern, aber die „eigentlichen Ursachen fehlender Impfinanspruchnahme“ nicht beheben würde – dafür müsse die „Akzeptanz von Impfungen in der Gesellschaft“ gefördert werden:
„Langfristig ist auch zu bedenken, dass Impfpflichten primär Verhalten verändern, nicht jedoch die eigentlichen Ursachen fehlender Impfinanspruchnahme (keine Einstellungsänderung, keine Lösung für Impfskepsis). Langfristig sollte eine hohe Akzeptanz von Impfungen in der Gesellschaft gefördert werden, i.S. von einem Verständnis für den Wert von Impfungen und eine eigenständige Motivation, sich und das eigene Umfeld durch Impfungen zu schützen. (S. 85)
Einschätzung des Bundesjustizministeriums (BMJ): Bei einer Impfpflicht wäre Erzwingungshaft möglich
Das Bundesjustizministerium (BMJ) nahm zur Frage der Abgeordneten nach Bußgeldern bei einer Impfverweigerung Stellung: Die Bußgeldbescheide würden von den Gesundheitsämtern erlassen, wobei auch eine „Vollstreckung in das bewegliche Vermögen durch Pfändung von Sachen, Forderungen und sonstigen Vermögenswerten oder Eintragungen einer Sicherungshypothek“ denkbar wäre – außerdem „Zwangsversteigerung und Zwangsverwaltung“ (S. 113). Auf die Frage, ob die Bußgelder sich nach der Einkommenshöhe richten sollten, antwortete das BMJ:
„Mit Blick auf die spezialpräventive Funktion der Geldbuße ist es geboten, diese so zu bemessen, dass sie den Täter spürbar trifft. (.) Nach nunmehr nahezu einhelliger Rechtsprechung werden bei Geldbußen von bis 250 EUR keine Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen als erforderlich erachtet.“ (S. 113)
Auf die Frage, inwieweit gesetzlich ausgeschlossen werden kann, dass Bußgelder im Falle der Nichtbegleichung als letzten Schritt Haft nach sich ziehen, erläuterte das BMJ, dass das Bundesverfassungsgericht eine „kurze Beugehaft“ oder „unmittelbaren Zwang“ nicht ausschließe. An einen “Ausschluss der Erzwingungshaft” seien strenge Anforderungen zu stellen:
„Die Erzwingungshaft soll nach ihrer gesetzgeberischen Intention gegen Betroffene angeordnet werden, die zwar zahlungsfähig, aber nicht zahlungswillig sind. Die Regelung in § 96 OWiG ist als Kann-Vorschrift ausgestaltet. Das BVerfG hat es unter dem Blickpunkt des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit als nicht unangemessen angesehen, wenn ein zahlungsfähiger Betroffener, der sich hartnäckig der Zahlung einer - wenn auch geringen - Geldbuße zu entziehen sucht, durch die Verhängung einer kurzen Beugehaft an seine Zahlungspflicht gemahnt wird. Ein wirklich zahlungsunfähiger Bußgeldschuldner kann dagegen die Erzwingungshaft abwenden, indem er seine Zahlungsunfähigkeit „dartut“, § 96 Absatz 1 Nummer 2 OWiG.
An einen Ausschluss der Erzwingungshaft nach § 96 OWiG wären strenge Anforderungen zu stellen. Eine solche Ungleichbehandlung wäre zunächst an Artikel 3 des Grundgesetzes zu messen, d.h. sie müsste durch einen sachlichen Grund ausreichend gerechtfertigt werden. Es bedarf mithin einer sachlichen Begründung, warum speziell in diesem Fall – anders als bei anderen Ordnungswidrigkeiten – auf die Anordnung der Erzwingungshaft verzichtet werden kann bzw. soll. Ein partieller Ausschluss der Erzwingungshaft dürfte insbesondere auch Gleichbehandlungsfragen hinsichtlich der Vollstreckung von Geldbußen wegen Verstoßes gegen die nach § 20a IfSG vorgesehene Pflicht eines Immunitätsnachweises gegen COVID-19 für Pflege- und ärztliches Personal aufwerfen, für die wiederum § 96 OWiG uneingeschränkt gilt.
Haft bleibt möglicherweise auch dann einschlägig, wenn die Abgabe der Vermögensauskunft vollstreckt wird. (.) Wird der Aufforderung nicht fristgemäß Folge geleistet, ist die Behörde zur Festsetzung des Zwangsgeldes befugt (§ 14 VwVG). Im Falle der Uneinbringlichkeit des festgesetzten Zwangsgeldes kann das Verwaltungsgericht auf Antrag der Vollzugsbehörde die Ersatzzwanghaft anordnen (§ 16 VwVG). Führt das Zwangsgeld nicht zum Ziel oder ist es untunlich, so kommt als Zwangsmittel auch der unmittelbare Zwang in Betracht (§ 15 VwVG). Zwangsgeld und unmittelbarer Zwang dürfen aber nicht gleichzeitig angedroht werden (§ 13 Absatz 3 VwVG). Bei einem „Ausschluss von Haft“ müsste auf diese verschiedenen Regelungszusammenhänge genau geachtet werden. Federführend ist BMI.“ (S. 114)
Das Bundesjustizministerium gab an dieser Stelle nur die allgemeine Rechtslage wieder - schließlich wird auch für nicht gezahlte GEZ-Beiträge ein Haftantritt fällig. Bei ihrem Gesetzesentwurf einer allgemeinen Impfpflicht hatten die Abgeordneten aber offenbar Bauchschmerzen bei der Vorstellung einer “Ersatzzwanghaft” oder “Erzwingungshaft” für Impfverweigerung - so hieß es im Gesetzesentwurf unter “Zwangsmittel”:
”Zur Durchsetzung einer Anforderung nach § 20d Absatz 1 oder Absatz 2, einer Anordnung nach § 20d Absatz 3 oder einer Untersagung nach § 20d Absatz 4 ist ausschließlich das Zwangsmittel des Zwangsgeldes zulässig. Im Falle der Uneinbringlichkeit des Zwangsgeldes nach Satz 1 ist die Anordnung von Ersatzzwangshaft oder Erzwingungshaft ausgeschlossen.” (S. 466)
Woraufhin ein geschwärzter Mitarbeiter am Rand kommentierte, hier bedürfe es einer Begründung, warum es zu einer “Ungleichbehandlung” mit den Schuldnern anderer Geldbußen komme:
”Die Änderungsanträge enthalten keine Begründung, die weiteren Aufschluss über einen sachlichen Grund für die Ungleichbehandlung mit Schuldnern anderer Geldbußen liefern könnten. Damit dürfte als tragender Grund für die Ungleichbehandlung wohl weiter nur angeführt werden können, dass die Befolgungsbereitschaft der Impfnachweispflicht sinken könnte, wenn im Zusammenhang mit der Nichtbefolgung Haft drohen könnte. Ob es sich tatsächlich so verhält ist - wie schon früher ausgeführt - fachlich einzuschätzen.” (S. 466)
Am 01. Februar 2022 gab das Auswärtige Amt seine Einschätzung zum Besten und schlug vor, eine allgemeine Impfpflicht an den festen Wohnsitz in Deutschland zu koppeln, da dies ermöglichen würde, alle längerfristig in Deutschland lebenden Personen zu erfassen – unabhängig davon, ob sie der Meldepflicht nachgekommen seien, was einige vielleicht bewusst umgehen würden. Das Auswärtige Amt äußerte zudem Bedenken, dass eine Impfpflicht für kurzzeitig nach Deutschland reisende Personen einem faktischen Einreiseverbot gleichkommen würde, und damit in der Realität nicht handhabbar sei. Gleichzeitig könne eine Ausnahmeregelung zu Problemen in der Wahrnehmung der Gerechtigkeit führen. Dies könne mit Begründung ausgeräumt werden, dass kurze Aufenthalte weniger zum Infektionsgeschehen beitragen. Das Auswärtige Amt schlug zudem vor, eine Anerkennung von nicht EMA-zugelassenen Impfstoffe „wohlwollender als bisher“ zu prüfen, da auch EMA-zugelassene Impfstoffe „alles andere als 100%ig wirksam seien.“ (S. 124)
Fragwürdige Einschätzungen des RKI
Auch das RKI nahm zu den Fragen der Abgeordneten Stellung: In einem PDF-Dokument mit knallroter Schrift und falscher Jahresangabe (28.01.2021) plädierte das RKI „auf Basis einer mathematischen Modellierung“ für möglichst hohe Durchimpfungsraten zum Schutz vor schwerer Erkrankung - mit der Begründung, dass die Impfung seit Omikron nicht mehr gut vor Übertragung schütze:
„Auf Basis einer mathematischen Modellierung wurde vom RKI im Juli 2021 eine Zielimpfquote (Impfschutz durch vollständige Impfung) von mindestens 85% für die 12-59-Jähriger sowie von mindestens 90% für Personen ab dem Alter von 60 Jahren als notwendig beschrieben, um das Infektionsgeschehen zu kontrollieren (.) Durch die neu aufgetretenen Omikronvariante ist es mit den gegenwärtig verfügbaren Impfstoffen nicht möglich, die Transmission in der Bevölkerung und damit die Viruszirkulation vollständig oder annähernd vollständig zu unterbinden, auch wenn die Transmissionsdynamik durch hohe Impfquoten etwas gebremst werden dürfte. Vorrangiges Ziel ist es daher, durch hohe und sehr hohe Impfquoten möglichst viele Personen vor einem schweren Krankheitsverlauf zu schützen, dies gilt insbesondere für Risikogruppen wie Altere und Personen mit Grunderkrankungen, grundsätzlich können jedoch alle Personengruppen einen schweren Verlauf erleiden. Durch einen möglichst vollständigen Schutz der Bevölkerung vor schwerer Erkrankung werden Ressourcen im Gesundheitssystem erhalten.“ (S. 126)
Auf die Frage, ob Geimpfte weniger infektiös seien als Ungeimpfte, gab das RKI eine auffallend vage Antwort: Zwar verringere die Impfung „grundsätzlich“ die Wahrscheinlichkeit einer Infektion, doch das „Ausmaß der Infektionsreduktion bei dreifach geimpften Personen unter Omikron“ sei unbekannt. Es müsse, so das RKI
„davon ausgegangen werden, dass sich ein bedeutsamer Teil der Menschen nach Kontakt mit SARS-CoV-2 trotz vollständiger Grundimmunisierung und Auffrischimpfung noch infizieren und dabei auch Viren ausscheiden und weitergeben können.“ (S. 134)
Auf die Frage, wie die Impfung wirke, gab das RKI einige fragwürdige Einschätzungen ab: Demnach würden Lipidnanopartikel nur in “einige wenige” Zellen gelangen, und erstere seien nicht zytotoxisch. Modifizierte RNA (modRNA) sei besser verträglich als mRNA, und würde schon nach kurzer Zeit wieder abgebaut werden:
„Durch eine, die mRNA umgebende Lipidstoffhülle wird die Aufnahme der mRNA in einige wenige Muskel- und Immunzellen ermöglicht. Studien haben gezeigt, dass die Lipidnanopartikel nicht zytotoxisch (zellschädigend) sind und von ihnen keine Gefahr für den menschlichen Körper ausgeht. (.) Die Verträglichkeit der modRNA ist im Allgemeinen gegenüber nicht modifizierter mRNA verbessert. (.) Die mRNA der RNA-Impfstoffe wird nach kurzer Zeit von den Zellen abgebaut.“ (S. 134/ 135)
Auf die Frage, welche Gruppen sich nicht impfen lassen würden, zitierte das RKI unter anderem die “COSMO-Studie” von Prof. Cornelia Betsch. Die größten Impflücken lägen bei über 60-Jährigen, im Pflegesektor, in ostdeutschen Bundesländern, bei Menschen mit Migrationshintergrund, bei Personen mit geringem sozioökonomischen Status, sowie bei 30 bis 39-Jährigen vor. Die Gründe dafür seien häufig “fehlendes Vertrauen in politische Akteure” oder “Desinformation”:
„Generell gilt, dass ein fehlendes Vertrauen in die Sicherheit und Wirksamkeit der Impfstoffe und in das Gesundheitssystem und seine Akteure ein Hauptgrund sind, sich nicht gegen COVID-19 impfen zu lassen. In Bezug auf Wissen zeigt sich, dass Falschwissen und Unsicherheiten rund um die COVID-19- Impfung immer noch weit verbreitet sind. Das betrifft bspw. Themen der Sicherheit der Impfung (wie beispielsweise die Befürchtung, die Impfung mache unfruchtbar, aber auch „klassische“ Misinformationen wie die Angst, durch die Impfung die Erkrankung zu bekommen). Das sind relevante Faktoren, die das Impfverhalten beeinflussen, und die kurz-, mittel- und langfristig adressiert werden müssten.“ (S. 136)
”Aufgedrängter Individualschutz”
In den Monaten Februar bis April 2022 feilte die AG Impfpflicht an ihrem Gesetzesentwurf zur allgemeinen Impfpflicht. Zahlreiche Änderungsanträge wurden eingereicht, Ministerien und Behörden kommentierten die Entwurfsversion mit farbigen Randbemerkungen. An einer Stelle wurde vorgeschlagen, den Begriff “Individualschutz” besser aus dem Text zu streichen, weil ein “aufgedrängter Individualschutz” eine allgemeine Impfpflicht nicht rechtfertigen könne:
“Vielleicht sollte das Stichwort ganz entfallen, weil ein aufgedrängter Individualschutz nichts zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung beitragen kann.” (S. 175)
In einigen Randbemerkungen wurde mit persönlichen Anekdoten argumentiert - so etwa ein geschwärzter Mitarbeiter aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS): Die Aussage des RKI, bei Kindern und Jugendlichen würden weniger symptomatische Fälle als bei Erwachsenen auftreten, kommentierte er mit einem persönlichen Erfahrungsbericht:
”Dringende Anregung einer Überprüfung. Ich habe mich von einer achtjährigen Tochter der Nachbarn bei einem kurzen Kontakt im Treppenhaus mit Omikron angesteckt, von allen erkrankten Freunden und Kollegen ist zu hören, dass Kinder die Seuche in die Familien und weitere Kontakte eingeschleppt haben. Das PIMS Syndrom wird hier noch nicht einmal erwähnt, Long Covid. Wenige Prozentpunkte bedeuten bei hoher Durchseuchung dennoch tausende Fälle in Deutschland von zerstörten Kinderleben und belasteten Familien. Aufgabe des Infektionsschutzgesetzes ist verfassungsrechtlich der Gesundheitsschutz in jedem Einzelfall. Die Linie der STIKO erscheint hier wenig nachvollziehbar. Daneben wird auch nicht eingegangen auf Erfahrungen in anderen - demokratischen - Ländern mit Impfpflicht explizit (nur) für Schulkinder, z. B. Uruguay.”
(S. 181)
Am 01. April 2022 setzte im BMG Referat 611 langsam Unruhe ein: In einer Email mit dem Betreff „EILT SEHR: Frist: So 12.00 Uhr allgemeine Impfpflicht - Ressortabstimmung Priorität: Hoch“ bat das BMG-Referat die anderen Ministerien um eine Prüfung der letzten Änderungsanträge bis Sonntag, 3. April 2022 um 12 Uhr. Das Referat dankte den Teilnehmern der Runde bei dieser Gelegenheit “für Ihren Einsatz auch am Wochenende, um den die MdB [Mitglieder des Bundestages; A.V.] gebeten hatten“ (S. 493).
Am 04. April 2022 forderte das Referat 611 in einer frühmorgendlichen Email alle Ministerien und Behörden auf, bis zur Ressortabstimmung um 13 Uhr ihre Stellungnahmen zum Gesetzesentwurf abzugeben (S. 524). Kurz darauf erfolgte die Antwort des Bundesdatenschutzbeauftragten: „Nach erster kursorischer Durchsicht“ bestünden „erhebliche datenschutzrechtliche Bedenken“ – eine genauere Stellungnahme sei in der Kürze der Zeit nicht möglich, könne aber nachgereicht werden (S. 523). Bis dahin verwies er auf eine eigene Stellungnahme Mitte März 2022, die er im Anhang mitsendete.
Die letzte Email des Datensatzes stammt vom 05. April 2022 - zwei Tage vor der Abstimmung zur allgemeinen Impfpflicht. Wie das Ergebnis der Abstimmung in der Arbeitsgruppe besprochen wurde, ist daher aus dem vorliegenden Material nicht ersichtlich.
Zentrale Grundlage für die allgemeine Impfpflicht: Studien von Dirk Brockmann und Cornelia Betsch
Seitens des RKI wurde in den vorliegenden Emails wiederholt auf “Modellierungsdaten” verwiesen, welche die notwendige Durchimpfungsrate in Deutschland aufzeigen würden. Als weitere wichtige Grundlage wurde häufig die COSMO-Studie von Prof. Cornelia Betsch, einer Verhaltensforscherin und Nudging-Expertin der Universität Erfurt, genannt. Grund genug, sich die Arbeiten der beiden Forscher noch einmal zu vergegenwärtigen, und warum diese möglicherweise eine zentrale Rolle bei der Debatte um die allgemeine Impfpflicht in Deutschland gespielt haben.
Die vom RKI erwähnten “Modellierungsdaten” basierten auf einer Studie von Dirk Brockmann mit dem Titel “Germany’s current COVID-19 crisis is mainly driven by the unvaccinated”, zu Deutsch: “Deutschlands aktuelle COVID-19 Krise wird hauptsächlich von den Ungeimpften vorangetrieben”, die im November 2021 erschien. Cornelia Betsch war als Ko-Autorin an der Studie beteiligt. Zahlreiche Medien verbreiteten kurz nach Erscheinen der Studie die von Brockmann darin erhobene Schlussfolgerung: Dass an der Mehrzahl der Infektionen - an acht bis neun von zehn Übertragungspaaren - Ungeimpfte beteiligt seien (1,2,3,4,5). Auch das von Jens Spahn eingeführte Narrativ der “Pandemie der Ungeimpften” ist auf die Brockmann-Studie zurückzuführen. Die Tatsache, dass es sich bei Brockmann um einen hochangesehenen RKI-Mitarbeiter handelte, verlieh der Studie zusätzliches Gewicht. Das RKI übernahm die Modelldaten von Brockmann in seinem Bulletin vom 09. Dezember 2021. Später wurde von vielen Autoren die stark mangelhafte Datengrundlage der Studie kritisiert, unter anderem dem Sachverständigenausschuss der Bundesregierung.
Bei den von Brockmann erhobenen Zahlen handelt es sich um reine Modelldaten: Brockmann schätzte den Anteil Ungeimpfter an Übertragungen auf Grundlage von Meldedaten aus dem Jahr 2021. Diese waren jedoch nicht repräsentativ, da niemals erhoben wurde, welchen Anteil Geimpfte und Ungeimpfte an den Testungen hatten. Damals bestand ein regelrechter Testpflicht-Dschungel: 2G- oder 3G-Modelle, unterschiedliche Testpflichten je nach nach Bundesland, je nach Impfstatus, sowie ein hoher Anteil an unbekannten Fällen. Wie beim Inzidenzskandal herauskam, lag der Anteil an Fehlzuweisungen beim Impfstatus bei bis zu 80 Prozent.
Dirk Brockmanns Modellierungsstudie war die zentrale Argumentationsgrundlage in der Debatte um eine allgemeine Impfpflicht in Deutschland. Das auf tönernen Füßen stehende Narrativ, Ungeimpfte seien ansteckender als Geimpfte, trieb im Winter 2021/ 2022 einen tiefen Keil in die Gesellschaft, bis hin zu Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts.
Brockmann ist mittlerweile Direktor des von ihm gegründeten “Center Synergy of Systems”. Dort arbeitet er mit zahlreichen Kollegen zusammen, die auch schon an der Studie “Germany’s current COVID-19 crisis is mainly driven by the unvaccinated”, beteiligt waren. Das folgende Video erlaubt einen Einblick in die Arbeit von Brockmann - er selbst bezeichnet diese als “Komplexitätsforschung”. Brockmanns Zentrum wird durch das BMG gefördert, und das BMG wiederum wollte mithilfe von Brockmanns Studie die allgemeine Impfpflicht einführen. So schließt sich der Kreis.
Cornelia Betsch, die zentrale Nudging-Beraterin der Bundesregierung, versorgte während der Debatte um die allgemeine Impfpflicht die Bundesregierung tagesaktuell mit Daten zur Stimmungslage der Bevölkerung, wobei sie sich besonders auf Ungeimpfte fokussierte. Unvergessen ist ihr Artikel aus dem November 2021 mit dem Titel “Impfpflicht - jetzt also doch?”, in dem sie zusammen mit einigen Kollegen argumentierte, dass sich eine Impfpflicht positiv auf die Gesellschaft auswirken könne: Sie sei sozial, stärke das Gemeinwohl und das Vertrauen. Auch hier argumentierte Betsch mit der Brockmann-Studie, bei der sie selbst Ko-Autorin war.
In einem ZEIT-Interview vom 28. November 2021 mit dem Titel “Dem Virus fällt es leicht, die Ungeimpften zu finden” (Zitat Cornelia Betsch) wurden Dirk Brockmann, Cornelia Betsch und die Virologin Melanie Brinkmann gemeinsam interviewt.
Auf die Frage der ZEIT, was in der aktuellen Lage aus wissenschaftlicher Sicht für eine Impfpflicht sprechen würde, verwies Dirk Brockmann erneut auf seine Studie:
”Wir haben in Deutschland schon seit Wochen einen R-Wert, der über 1 liegt, was bedeutet, dass die Infektionszahlen exponentiell wachsen. Deshalb haben wir die vierte Welle. In meiner Arbeitsgruppe haben wir uns gefragt: Wer trägt was zum Infektionsgeschehen und zur Dynamik bei? Benjamin Maier aus meinem Team hat das berechnet, und da zeigt sich: Obwohl die Ungeimpften in der Minderheit sind, bestimmen sie einen deutlichen Teil des Infektionsgeschehens.”
Brockmanns Studie trug massiv dazu bei, dass Ungeimpfte in Deutschland im Winter 2021/ 2022 diskriminiert wurden, und eine allgemeine Impfpflicht diskutiert wurde. Brockmann wird in knapp einem Monat, am 13. November 2025, zum ersten Mal in Sachsen vor einem Corona-Untersuchungsausschuss aussagen. Es ist an der Zeit, ihm einige kritische Fragen zur Datengrundlage seiner Studie zu stellen.
Fazit nach einer ersten Durchsicht der “AG Impfpflicht”-Emails
Bei einer Analyse der Emails der AG Impfpflicht fallen einige Tatsachen ins Auge: Erstens, die Diskrepanz zwischen dem Diskurs innerhalb des RKI-Krisenstabs, in dem ab Mitte Januar Zweifel an der allgemeinen Impfpflicht aufkamen - und das Auftreten des RKI innerhalb der “AG Impfpflicht”, wo es die allgemeine Impfpflicht klar befürwortete und keinerlei Bedenken äußerte. Es stellt sich die Frage, ob die Weisungsgebundenheit des RKI unter dem BMG dazu führte, dass es das RKI nicht wagte, fachliche Zweifel zu artikulieren.
Zudem gab das RKI einige fragwürdige Empfehlungen ab: Da die Impfung nicht mehr so gut gegen Transmission wirke, müsse nun die Impfquote massiv erhöht werden, um jeden einzelnen Bürger vor “schwerer Krankheit” zu schützen. Die Tatsache, dass die Omikron-Variante zwar mehr Infektionen, aber weniger schwere Verläufe verursacht, wurde nicht berücksichtigt. Einen Fremdschutz zog das RKI schon gar nicht mehr in Betracht - es ging nur noch um den Schutz vor schweren Verläufen, denn letztere würden zu Kosten für die Allgemeinheit führen. Nur an einigen wenigen Stellen blitzte die Einsicht auf, dass die Begründung einer allgemeinen Impfpflicht mit “Individualschutz” möglicherweise verfassungsrechtlich heikel sein könnte, da man ein Individuum schwer zum Selbstschutz zwingen kann - ebenso, wie man niemanden dazu zwingen kann, mit dem Rauchen aufzuhören, oder sich gesünder zu ernähren - auch wenn hier ebenfalls selbstschädigendes Verhalten vorliegt, und potenziell Kosten für die Allgemeinheit entstehen. Wenn man einmal damit anfängt, selbstschädigendes Verhalten zu sanktionieren: Wo hört man damit auf?
Im Winter 2021/ 2022 hattten sich sowohl Lauterbachs BMG, als auch die Regierungsfraktionen SPD, Grüne und FDP ideologisch fest auf die allgemeine Impfpflicht eingeschossen. Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, ob auch mildere Mittel infrage kämen, wurde an keiner Stelle angestellt. Stattdessen wurde in hoher Detailverliebtheit darüber sinniert, welche arbeitsrechtlichen Konsequenzen und Bußgelder Ungeimpften im Falle einer Impfverweigerung drohen dürften. Deutsche Gründlichkeit, jedoch leider an der falschen Stelle.
An dieser Stelle sei noch einmal daran erinnert, dass die allgemeine Impfpflicht in Deutschland im April 2022 nur deshalb nicht realisiert wurde, weil die unterschiedlichen Bundestagsfraktionen sich mit ihren Gesetzesentwürfen gegenseitig ausbremsten, so dass am Ende für keinen der Entwürfe eine ausreichende Mehrheit vorhanden war. Kein “Sieg der Vernunft” hat damals die Gesellschaft vor weiteren Zerwürfnissen bewahrt, sondern schnödes Parteien- und Machtgekungel.
Die Emails der “AG Impfpflicht” zeigen auf, auf welcher brüchigen Grundlage im Winter 2022 für die allgemeine Impfpflicht argumentiert wurde. Sie sind ein drohendes Mahnmal dafür, was sich in Deutschland auf keinen Fall wiederholen darf, wenn Artikel Eins und Zwei des Grundgesetzes - die Würde des Menschen und das Recht auf körperliche Selbstbestimmung - in Zukunft wieder gelten sollen.
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