Neue Entschwärzungen der Expertenrat-Protokolle: Lauterbach schlug 1G vor
Kurz vor der Gerichtsverhandlung um die Protokolle des Corona-Expertenrats legt das Kanzleramt neue, entschwärzte Stellen vor. Die Inhalte haben es in sich.
Das Tauziehen um die Protokolle des Corona-Expertenrats geht in die nächste Runde: Am kommenden Montag findet die nächste Verhandlung zwischen dem Arzt Christian Haffner und Bundeskanzleramt um die Schwärzungen in den Protokollen statt. Das Kanzleramt bot kurz vor der Verhandlung einen “Deal” an: Sie übergaben dem Kläger eine weitgehend, aber noch nicht vollständig entschwärzte Version der Protokolle. Die Namen der Urheber konkreter Vorschläge sollen aus Sicht des Kanzleramts weiterhin geschwärzt bleiben. Zur Begründung der verbliebenen Schwärzungen wird unter anderem auf den Schutz der öffentlichen Sicherheit, fiskalische Interessen sowie bilaterale Beziehungen - insbesondere mit der Volksrepublik China - verwiesen. Sollte sich der Kläger mit der vorgelegten Version zufrieden geben und auf weitere Verhandlungen verzichten, trüge das Kanzleramt die Prozesskosten. Der Kläger Christian Haffner lehnte das Angebot ab und erklärte auf der Plattform X, er ”sei nicht käuflich”. Die teilentschwärzte Version des Kanzleramts hat Haffner nun veröffentlicht. Einige Stellen sind brisant: So brachte etwa Karl Lauterbach den Vorschlag ein, von der 2G-Regel noch auf 1G zu verschärfen - und somit auch Genesene vom gesellschaftlichen Leben auszuschließen. Ein Überblick über die neuen Entschwärzungen.
Nun ist es also amtlich: Die neuen Entschwärzungen in den Protokollen des Corona-Expertenrats zeigen auf: Lauterbach wollte ALLE Ungeimpften vom gesellschaftlichen Leben ausschließen – auch jene, die einen Genesenenstatus vorweisen konnten. In der vierten Sitzung des Corona-Expertenrats am 28. Dezember 2021 schlug er der Runde vor, von “2G” auf “1G” zu erhöhen: Demnach hätten nur noch Geimpfte Zutritt zum öffentlichen Leben, in Restaurants und Geschäfte gehabt. Was für Millionen Ungeimpfte in Deutschland im Winter 2021/ 2022 bereits entsetzliche Realität war, wollte Lauterbach auf einen noch größeren Teil der Gesellschaft ausweiten. Allen Menschen, die auf natürlichem Weg eine Immunität gegen COVID-19 aufgebaut hatten, wollte er ebenfalls die Teilnahme am sozialen Leben verwehren:
Vorschlag des BM Lauterbach:
Als zusätzliche Maßnahme in den Bereichen Gastronomie u. Handel (mit Ausnahme Lebensmittel) könnte der Zugang nur für geboosterte Personen (1G = geboostert) ermöglicht werden. Zudem solle die inzidenzunabhängige Schließung von Bars in Betracht gezogen werden.
Öffentliche Verbreitung fand Lauterbachs Vorstoß wenige Tage später durch das Expertenrat-Mitglied Christian Drosten: Am 01.01.2022 verwandelte er Lauterbachs intern geäußerten Vorschlag in einen medialen Testballon und sprach sich öffentlich für die 1G-Regel aus.
Edit 12.05., 16:17 Uhr: Drostens “medialer Testballon” fand bereits am 23.12.2021 in einem Interview mit der SZ (Archive Link) statt - fünf Tage, bevor Karl Lauterbach den Vorschlag intern im Expertenrat brachte. Der Tagesspiegel-Artikel vom 01.01.2022 zog seine Headline aus einer Aussage Drostens zu 1G im besagtem SZ-Interview. Es ergibt sich die Frage, wer zuerst die Idee für 1G hatte: Karl Lauterbach, Christian Drosten, oder beide zusammen? In den Protokollen spricht sich einzig Karl Lauterbach für 1G aus, Christian Drosten bleibt dazu “stumm” - öffentlich wiederum äußert sich nur Christian Drosten zu 1G. Ein Nachtrag zu den Implikationen, die sich daraus ergeben, findet sich am Ende des Artikels.
Intern jedoch hatten sogar die Mitglieder des Expertenrats - die sonst Lauterbachs grundrechtsverletzende Vorstöße meist bereitwillig mittrugen – plötzlich Bedenken: Sie fürchteten neben einer fehlenden epidemiologischen Sinnhaftigkeit um die „gesellschaftspolitische Wirkung“. Unter einer bedenklichen „gesellschaftspolitischen Wirkung“ verstanden sie jedoch nicht etwa die systematische Einschränkung von Grundrechten für Millionen Menschen in Deutschland, eine Gesellschaftsspaltung nie dagewesenen Ausmaßes oder die Entstehung einer an biologische Marker geknüpften Zwei-Klassen-Gesellschaft. Vielmehr besorgte die Experten, wie man unter 1G-Bedingungen mit jenen umgehen sollte, die nicht geboostert werden konnten - oder ob die für 1G erforderliche Anzahl von “Booster-Impfangeboten für alle” überhaupt realisierbar wäre:
“Schließung von Bars wird im Kreis der Expertinnen und Experten grds. befürwortet. Vorschlag, nur Geboosterten Zugang zu Handel und Gastronomie zu gewähren, wurde kontrovers diskutiert. Hierbei wurden die epidemiologische Sinnhaftigkeit, gesellschaftspolit. Wirkung (Umgang mit Menschen, die nicht geboostert werden können, Realisierbarkeit von Boosterimpfangeboten für alle etc.) beleuchtet. Kommunikativ wichtig sei Definition der Zielrichtung weiterer Maßnahmen, um die Eignung einer Maßnahme zu prüfen. Ergänzende Maßnahmen seien zu forcieren (z.B. Vorschlag, FFP2-Maskenpflicht in allen Innenbereichen zu tragen).”
Obwohl diverse Sozialpsychologen und die Leiterin des Ethikrats höchstpersönlich im Expertenrat anwesend waren, brachte keiner der Experten ethische Bedenken vor. Ihre “gesellschaftspolitischen” Bedenken beschränkten sich auf den Aspekt einer logistischen Realisierbarkeit. Als Alternative zu 1G schlugen sie “ergänzende Maßnahmen” wie etwa eine breitflächige FFP2-Maskenpflicht in Innenräumen vor.
In der fünften Sitzung am 04. Januar 2022, eine Woche später, trat Lauterbach von seinem 1G-Vorschlag zurück und einigte sich mit den Experten auf den Kompromiss der “2G-plus-Regel”: Geimpfte und Genesene sollten demnach weiter am gesellschaftlichen Leben teilnehmen dürfen, unter Vorlage eines tagesaktuellen Tests. Um die Verwirrung perfekt zu machen, schlug Lauterbach als Ausnahme vor, Geboosterte von der Testpflicht zu befreien. Dabei ging es ihm offensichtlich darum, einen weiteren Nudging-Anreiz zu schaffen, um Zweifach-Geimpfte zur Booster-Impfung zu motivieren:
”TOP 4 Auswertungen der Antworten zu 1G
BM Lauterbach ändert seinen in der letzten Sitzung unterbreiteten Vorschlag (1G in Gastronomie und Handel) dahingehend ab, dass auch 2G PIus in der Gastronomie denkbar sei, wobei Geboosterte vom Testerfordernis ausgenommen werden. In der Gastronomie bestehe grds. ein höheres Infektionsrisiko (keine Masken am Platz, ältere Kunden). Es besteht grundsätzlich Konsens, dass die auf den Bereich Gastronomie beschränkte 2G-Plus-Regelung sinnvoller ist. Es müsse aber Ausnahmen für unter 18-Jährige geben, für die noch keine Booster-Empfehlung bestehe sowie für nicht Impffähige. Wichtig wäre eine bundeseinheitliche Regelung.”
An dieser Stelle drängt sich unweigerlich der Eindruck eines “Markthandels” auf. Hier ging es schon lange nicht mehr um Evidenz, sondern um das subjektive Bauchgefühl der Experten. Während in Deutschland Millionen Menschen vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen waren, wurde im Expertenrat wie auf einem Markt um die Grundrechte der Bürger “geschachert”: Sollte es die ganz harte 1G-Regel sein? Oder vielleicht lieber doch nur die etwas mildere 2G-Plus-Regel, mit Test-Ausnahmen für Geboosterte? Und dazu noch eine breitflächige FFP2-Maskenverordnung in Innenräumen on top? Man fragt sich, warum nicht gleich um die Corona-Maßnahmen gewürfelt wurde - das Ergebnis wäre mit Sicherheit nicht irrationaler ausgefallen.
Ironischerweise stellten die Experte ebenfalls in der fünften Sitzung fest, dass die von ihnen angepriesene Booster-Impfung keinen besonders hohen Schutz vor Omikron bietet:
”Eine neue Haushaltskontaktstudie aus DNK [Dänemark, Anmerkung A.V.] zeige, dass die mRNA-Booster-Impfung einen 46%igen Schutz vor Infektion mit Omikron bietet, die zweifache Impfung jedoch nicht.”
Nun stellen 46% nicht gerade ein überragendes Ergebnis für eine “hochwirksame und nebenwirkungsfreie” Impfung dar. Noch im April 2020, vor Zulassung der COVID-Impfstoffe war es eine klare Zielvorgabe der WHO, dass bei COVID-Impfstoffen mindestens eine 50%ige Schutzwirkung gegeben sein muss. Mit der Aussage, dass die Zweifach-Impfung den bereits geringen Schutz der Booster-Impfung von 46% “jedoch nicht” bietet, wird praktisch eingeräumt, dass die Zweifachimpfung keinen Schutz vor Omikron bietet. Ursprünglich geschwärzt wurde die Stelle mit der Prozentzahl von “46% Schutz vor Omikron” laut Begleitschreiben der Anwaltskanzlei, da sie aus einer “noch nicht veröffentlichten Datenauswertung” stammte.
Auf einer solch dünnen Sachgrundlage eine Impfpflicht beschließen zu wollen - die dem Expertenrat demnach bekannt war - ist gelinde gesagt politischer Irrsinn. Es stellt sich die Frage, wozu es überhaupt ein Expertengremium braucht, wenn es von politischem Irrsinn dieser Größenordnung aus fachlicher Sicht nicht abrät. Denn während sich der Expertenrat darüber klar wurde, dass auch die von ihnen so angepriesene Booster-Impfung nur 46%igen Schutz vor Omikron bietet, trommelten die Bundestagsabgeordneten der Ampelfraktion im Bundestag lautstark für eine Impfpflicht und verbreiteten Märchen von Fremdschutz und Herdenimmunität. Auch im Expertenrat wurde weiter das Märchen vom Übertragungsschutz verbreitet: So behaupteten die Experten noch in der 10. Expertenrat-Sitzung am 09. Februar 2022 im Beisein von Bundesjustizminister Marco Buschmann, die “Impfung verringere die Übertragbarkeit des Virus”.
Die vom Kanzleramt entschwärzten Stellen enthalten weitere brisante Inhalte. So schien die Experten offenbar die Frage umzutreiben, wie mit Ärzten “umzugehen sei”, die die Impfung ablehnten. Welche Konsequenzen die betroffenen Ärzte hierbei nach der Vorstellung der Experten idealerweise zu erwarten hätten, wird zwar nicht näher ausgeführt - doch bereits in der zweiten Expertenrat-Sitzung riet man Fachgesellschaften, Ärztekammer und Gesundheitsministerien, “sich zudem verständigen, wie sie mit Ärzten umgehen, die generell vom Impfen abraten.”
Überlegungen dieser Art wurden später in der zehnten Sitzung unter dem Punkt “Kommunikation zu Impfpflicht” weitergeführt, in einem erstmals entschwärzten Textabschnitt:
“Zusätzlich muss man sich auch mit der Gruppe von Ärzten auseinandersetzen, die eine Impfung ablehnen, da Empfehlungen von Ärzten im Allgemeinen sehr deutlich wirken. Eine Impfpflicht nur für ältere Menschen wird kritisch gesehen, da es ein falsches Signal für alle anderen Altersgruppe[n] sein könnte (als wenn diese keine Impfung mehr bräuchten).”
Neben einem durchscheinenden Sanktionierungswunsch für Ärzte, die der COVID-19-Impfung kritisch gegenüberstanden, wird hier deutlich, dass den Experten die “richtige Signalwirkung” offenbar wichtiger war, als fachlich angezeigte Notwendigkeit. Aus den Protokollen des Expertenrats geht zwar nicht hervor, dass die Experten der Politik explizit zur Impfpflicht rieten - sie rieten jedoch trotz fehlender Evidenz auch nicht davon ab. Zudem vertraten viele Expertenrat-Mitglieder “privat” ganz klar die Haltung, dass eine Impfpflicht notwendig sei, und verbreiteten ihre Meinung in diversen TV-Auftritten bei staatlichen Medienformaten.
In der 07. Sitzung am 18. Januar 2022 warben die Experten dafür,
“keine Unterscheidung bei der stat. Aufnahme zwischen Aufnahmen „mit" und „wegen" COVID-19 zu machen, da eine abschließende Unterscheidung oft kaum möglich sei[n]".
Die Problematik, nicht sauber zwischen ursächlich wegen Covid hospitalisierten Patienten und solchen, bei denen Covid lediglich eine Nebendiagnose darstellt, zu unterscheiden, war damals bereits hinlänglich bekannt: Die Covid-19-Fallzahlen wurden dadurch unnötig aufgebläht, und es kam zu den vielzitierten, absurden Fällen, in denen nach einem Unfall hospitalisierte Patienten plötzlich als Covid-Patienten gezählt wurden, die im Falle ihres Ablebens ebenfalls mit in die Covid-19-Mortalitätsstatistik einflossen. Angesichts ihres Vorschlags im Expertenrat, nicht mehr zwischen Patienten zu unterscheiden, die “mit” oder “wegen” Covid stationär behandelt wurden, müssen sich die Experten den Vorwurf gefallen lassen, die künstlich erzeugte Verzerrung der COVID-19-Fallstatistik aktiv mit erzeugt zu haben.
In der 14. Sitzung am 15. März 2022 bleibt ein großer Textblock geschwärzt. Die Anwaltskanzlei des Kanzleramts schreibt dazu in ihrem Begleitschreiben:
”Die Schwärzungen in den Überschriftenzeilen von TOP 3 beziehen sich auf die Person oder Personenmehrheit der Darstellungen zum Thema „Vorbereitung Herbst“ beziehungsweise „mögliche Szenarien zu zukünftigen Virusvarianten“ und erfolgt nach Maßgabe der obigen Ausführungen wegen Vorliegens des Ausschlussgrundes § 3 Nr. 2 IFG („Schutz der öffentlichen Sicherheit“) und zum Schutz personenbezogener Daten gemäß § 5 Absatz 1 IFG.
Die Schwärzung der neunten bis zur 16. Zeile betrifft die Einschätzung von Maßnahmen der chinesischen Regierung zur Bekämpfung von Corona und erfolgt auf Basis von § 3 Nr. 1 lit. a IFG. Durch eine Herausgabe der begehrten Informationen können die diplomatischen Beziehungen zu China, insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen (sicherheits-)politischen Lage, erheblich belastet werden. Die chinesische Regierung hat im Hinblick auf ihre Corona-Politik in der Vergangenheit große Sensibilitäten gezeigt, so dass es nicht ausschließbar ist, dass die Veröffentlichung der Sichtweise des Corona-ExpertInnenrats auf die Maßnahmen der chinesischen Regierung zur Bekämpfung von Corona von der chinesischen Regierung negativ aufgenommen wird, was erhebliche sicherheitspolitische oder wirtschaftspolitische Auswirkungen für die Bundesrepublik haben könnte.”
Inwieweit im Jahr 2024 weiterhin diplomatische Sorgen um die deutsch-chinesichen Beziehungen das berechtige Informationsinteresse der Öffentlichkeit an den vollständig entschwärzten Protokollen des Corona-Expertenrats überwiegen, wird die Verhandlung am Montag zeigen.
In der 20. Sitzung am 10. Mai 2022 wurde ein Textabschnitt zum Thema Kinderimpfung entschwärzt:
“Es wird auf eine noch in der Abstimmung befindliche Stellungnahme der STIKO verwiesen. Diese habe zwei wesentliche Aspekte l.) Generelle Impfempfehlung für Kinder von 5 bis 11 Jahren für eine Impfstoffdosis und 2.) grundlegende Darlegung zur Immunisierung, wonach drei Kontakte mit dem Spikeprotein (durch Impfung oder Infektion) einen langfristigen Schutz darstellen. Es wird überlegt, wie diese Botschaften gut kommunizierbar sind.”
In der 24. Sitzung am 28. Juni 2022 räumte ein Experte zwar ein Risiko für eine impfbedingte Myokarditis-Risiko für Kinder und Jugendliche ein, verwies aber darauf, es gebe derzeit noch “keine validen Aussagen, ob das Risiko mit der Anzahl der verabreichten Impfstoffdosen steigt”. “Gerade bei einer Myokarditis” seien “langfristige Schäden, die erst mit zeitlichem Abstand zu der akuten Erkrankung[en] auftreten, zu beobachten.”
Trotzdem starteten Karl Lauterbach und das Bundesgesundheitsministerium auf Grundlage der neuen STIKO-Stellungnahme im Juli 2022 nochmal erneut eine Kinder-Impfkampagne.
In der 22. Sitzung am 31. Mai 2022 wurde über die Zukunft des Expertenrats nachgedacht: Vorgeschlagen wurde ein “zentraler Expertenrat”, der die Bundesregierung zu “übergreifenden Katastrophenlagen” berät:
”Grundsätzlich besteht in Bezug auf die Entwicklungsmöglichkeiten des Expertinnenrats die Überlegung/ inwieweit ein zentraler Expertlnnenrat die Bundesregierung zu übergreifenden Katastrophenlagen beraten könnte. Eine derartige Institutionalisierung könnte einen erneuten Kaltstart, wie es der Corona-Expertlnnenrat erlebt hat, vorbeugen.”
Der Sinngehalt manch entschwärzter Textpassage bleibt nebulös - etwa bei den folgenden Zeilen aus der 25. Sitzung vom 12. Juli 2022:
”Zudem legen aktuelle Daten nahe, dass es bei Omikron eine Infektion mehr braucht, um die gleiche Reduktion der Viruslast zu erreichen, wie bei einer Delta-lnfektion. Bei Menschen mit einer rezenten Omikron-lnfektion reduziert sich die Viruslast stärker als bei erstmals Omikron-lnfizierten, die vorher eine Erkrankung mit Delta vorwiesen. Dies widerspricht der verbreiteten These des immune imprinting.”
In der 32. Sitzung wurde eine längere Textpassage zur “Zukunft des Expertenrats” entschwärzt – was dem Kanzleramt im Zuge seiner “Neubewertung” der Protokolle heute wohl weniger brisant erschien, da der neue “ExpertInnenrat Gesundheit und Resilienz” - inklusive zahlreicher ehemaliger Expertenrat-Mitglieder - ohnehin seit dem 18. März 2024 eingerichtet ist. Der Absatz enthält folgerichtigerweise auch wenig Neues, was über die übliche “One Health”-Sprachfolklore im Duktus einschlägiger WHO- und UN-Broschüren hinausgeht.
In der 33. Sitzung am 04. April 2023 bleiben diverse Sätze weiterhin geschwärzt. Im betreffenden Textabschnitt geht es um den Ursprung von COVID-19. Ein juristischer Begründungstext, warum jene Passagen geschwärzt wurden, liegt nicht vor, weil diese ohne weitere Begründung der Kanzlei zum ersten Datensatz später nachgeliefert wurden. Warum der deutschen Öffentlichkeit Textpassagen zum Ursprung von COVID-19 vorenthalten werden sollen, bleibt unklar - und wird am Montag vor Gericht verhandelt.
Die vom Kanzleramt freigegebenen, neuen Entschwärzungen im Vorfeld der nächsten Gerichtsverhandlung lassen die Arbeit des Expertenrats in keinem besseren Licht als zuvor erscheinen: In Scholz’ Experten-Gremium wurde augenscheinlich mit unseren Grundrechten wie auf einem Kuhmarkt gehandelt. Die Experten formulierten zwar Widerspruch zu Lauterbachs 1G-Vorstoß, begründeten diesen jedoch nicht auf Grundlage ethisch-humanistischer Werte, sondern fehlender technischer Machbarkeit. Fragen wie Grundrechte, und gesellschaftspolitische Folgen, die sich ergeben, wenn man in einer Demokratie die Vergabe von Grundrechten an den medizinisch-biologischen Status knüpft, wurden im Expertenrat an keiner Stelle besprochen, und spielten in den Erwägungen der Experten schlichtweg keine Rolle. Der Expertenrat hat somit gravierendste Demokratie-Aushöhlungen der letzten Jahre - den Corona-Winter 2021/ 2022 unter 2G-Bedingungen, der ein Viertel der Bevölkerung vom gesellschaftlichen Leben ausschloss - maßgeblich mitgetragen.
Aus den neu entschwärzten Stellen wird deutlich, dass Christian Drosten vollen Rückhalt von Karl Lauterbach genoss, als er den Talking Point “1G” in den politmedialen Äther ventilierte. Christian Drosten trat mit seinem 1G-Vorschlag de facto öffentlich als Karl Lauterbachs Sprachrohr auf.
Ohne die Klage von Christian Haffner hätten wir von jenen internen Dynamiken der Corona-Politik unter Olaf Scholz nichts erfahren. Es ist begrüßenswert, dass Haffner sich auf den Vorschlag des Kanzleramts, die Klage fallen zu lassen, nicht eingelassen hat. Zwei Stunden nach Veröffentlichung dieses Textes, gegen 12:22Uhr, hat mir Haffner dazu noch folgenden Kommentar nachgeliefert:
„Die noch verbleibenden Schwärzungen in den Protokollen sind nicht nachvollziehbar, da es für die Bewertung des Expertenrates schon wichtig ist, die Namen der Gäste zu kennen, die dort vortragen durften, ob sie z.B. von der pharmazeutischen Industrie oder NGOs, wie GAVI, Welcome Trust usw. oder von China oder Russland waren. Auch können ominöse fiskalische Interessen nicht vorgeschoben werden und über das Interesse der Allgemeinheit gestellt werden. Es ist bei so gravierenden Einschränkungen der Grundrechte wichtig zu wissen, dass das Ganze im Interesse der Bevölkerung ist, und nicht im Interesse einer Industrie, NGOs oder einzelnen Politikern.“
Haffners Follower auf X haben bereits in Aussicht gestellt, auch eine Berufungsklage in der nächsten Instanz weiter finanziell unterstützen zu wollen, sollte es am Montag vor Gericht zu einer Niederlage kommen. Es bleibt also weiterhin spannend.
Nachtrag, 12.05.2022 09:54 Uhr
Eine wichtige Information muss ergänzt werden. Im Nachgang zu meinem Artikel wurde ich darauf hingewiesen, dass Drosten bereits am 23.12.2021 in einem Interview in der Süddeutschen zum allerersten Mal 1G ins Spiel brachte - relativ gegen Ende versteckt im Text. [Archive Link]
Interessanterweise wurde diese nur in den Text eingebettete Information am selben Tag nur drei Stunden später schon als Schlagzeile von der FAZ aufgemacht.
Die Idee von 1G wurde also ursprünglich am 23.12.2021 im Interview mit der SZ von Christian Drosten verbreitet - der FAZ-Artikel vom 23.12.2021 und Tagesspiegel-Artikel vom 01.01.2022 griffen den “Talking Point” nur aus der Süddeutschen auf und verbreiteten ihn jeweils als Headline weiter. Lauterbachs Vorschlag zu 1G im Expertenrat fiel demnach am 28.12.2021 - fünf Tage NACH Christian Drostens öffentlichem Vorschlag zu 1G in der Süddeutschen Zeitung.
Nun stellt sich die durchaus interessante Frage, wer hier wen zuerst mit seinen Ideen beflügelt hat: Hat Christian Drosten durch seine Verlautbarungen in Medienformaten wie der Süddeutschen Karl Lauterbach von der Notwendigkeit von 1G überzeugt? Oder gab es gar persönliche Absprachen zwischen den beiden, in denen Lauterbach Drosten praktisch den “Freifahrtschein” gab, bereits öffentlich über die 1G-Idee zu sprechen, und ihr so von virologischer Seite aus die benötigte wissenschaftliche Legitimität zu verleihen? Auffällig ist, dass Christian Drosten 1G öffentlich als Idee in den Raum stellte - in der vertraulichen Atmosphäre des Expertenrats aber offenbar nur Karl Lauterbach die Idee vorschlug. Da an keiner anderen Stelle in den Protokollen über 1G in Zusammenhang mit einem aktuell noch geschwärzten Namen gesprochen wird, kann Drosten diese Idee dort nicht eingebracht haben. Ist Drosten im Expertenrat dazu “verstummt”, da er in der Mehrheitsmeinung seiner Kollegen kontra 1G lieber nicht anecken wollte - privat war er aber diesbezüglich mit Karl Lauterbach einer Meinung?
Hinter dem Marketing-Akronym “1G”, das so harmlos klingt wie der Name eines neuen iPhone, verbirgt sich konkret die komplette Leugnung natürlicher Immunität: Es ist die Behauptung, dass eine Immunisierung vor COVID-19 nur durch eine Impfung erreicht werden kann. Eines muss klar sein: Wer auch immer so eine Idee ausspricht und bewirbt, vertritt starke Interessen im Sinne der pharmazeutischen Industrie.
Die Genese der Idee 1G - ob Karl Lauterbach oder Christian Drosten diese Idee zuerst hatten - kann aus den vorliegenden Dokumenten nicht final ermittelt werden. Journalisten, die an Karl Lauterbach oder Christian Drosten herankommen, sollten letzteren unbedingt jene Frage stellen. Wenn die vielfachen Rufe nach einer Aufarbeitung, die inzwischen sogar verstärkt aus den Regierungsparteien kommen, mehr als nur heiße Luft sein sollen, müssen solche Fragen - wer ursächlich für die heftigsten und pharmafreundlichsten Vorstöße in punkto Einschränkung von Grundrechten verantwortlich ist - unbedingt gestellt werden.
Alle Dokumente zum Corona-Expertenrat zum Download, bereitgestellt von Christian Haffner:
Protokolle 1-25, Version 6/2023: https://my.hidrive.com/lnk/UbST4YWv Begleitschreiben mit Begründungen: https://my.hidrive.com/lnk/MmyT4vsv
Protokolle 26-33, Version 8/2023: https://my.hidrive.com/lnk/AbvuksK7#file…
Neue Version der Protokolle 1-33 mit weiter aufgehobenen Schwärzungen, Version 07.05.2024: https://my.hidrive.com/lnk/UtxWBUclh#file…
Schreiben des Bundeskanzleramtes vom 07.05.2024: Weitere Aufhebungen der Schwärzungen und Deal, das Verfahren einzustellen: https://my.hidrive.com/lnk/RItCnoeHI
Mein Dokumentarfilm “Die Geheimakte Corona-Expertenrat auf X | auf YouTube
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Danke für die großartige Arbeit, Aya!!!
»Es bleibt also weiterhin spannend.« — Das kann man wohl so sagen. Ich hoffe inständig, dass es "im großen Finale" endlich zu Anklagen und schlussendlich auch zu Verurteilungen der Verantwortlichen kommen wird – obgleich diese Hoffnung, nach allem was wir bisher in punkto "Aufarbeitung" erleben durften, wohl eher bescheiden ist. Trotzdem Danke für die detaillierte Reportage!