Wider den Zeitgeist: Der Journalist und ehemalige SPD-Politiker Mathias Brodkorb fordert die Abschaffung des Bundesamts für Verfassungsschutz
In seinem am 04. März erschienenen Buch "Gesinnungspolizei im Rechtsstaat?" analysiert Cicero-Journalist Brodkorb die gegenwärtigen Beobachtungspraktiken der Behörde und fällt ein vernichtendes Urteil
Am 04. März ist ein neues, spannendes Buch erschienen: „Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? Der Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik“ – verfasst vom Cicero-Journalisten und ehemaligen SPD-Politiker Mathias Brodkorb, der bis 2016 Bildungsminister und bis 2019 Finanzminister von Mecklenburg-Vorpommern war. Ich habe die 216 Seiten plus Quellen mit großem Interesse gelesen. Brodkorb, studierter Philosoph, baut sein Buch auf sechs „Fallstudien“ von Individuen wie Gruppierungen auf, die teilweise jahrzehntelang durch das Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet wurden. Wie in zwei von diesen sechs Fällen inzwischen juristisch verbrieft ist: Zu Unrecht beobachtet wurden. In den Augen des Autors steht die Daseinsberechtigung der Behörde zur Disposition.
Wer eine historische Abhandlung über die Abgründe und Verbrechen der Behörde erwartet – von Ex-NSDAP-Mitgliedern in Spitzenfunktionen der Behörde in den ersten Jahrzehnten, der Versorgung der RAF mit Sprengstoff und Waffen, der “Celler Loch”-Affäre, dem Aufbau der Neonazi-Szene und der NPD, bis hin zum Untätigbleiben bei den Morden des NSU – wird mit Mathias Brodkorbs neuem “Anti-Verfassungsschutz-Buch” vermutlich nicht gut bedient werden. Er selbst stellt dies einschränkend voran: Besagte Ereignisse seien bereits recht gut dokumentiert. Auch die Problematik rund um das Thema V-Leute – wie etwa im Dokumentarfilm „V-Mann-Land“ eindrucksvoll aufgezeigt - steht nicht im Fokus. Ebensowenig geht es um „Aktionen unter falscher Flagge“ oder Straftaten, die ganz legal von V-Leuten im Rahmen ihrer Arbeit begangen werden dürfen, wie etwa der SZ-Journalist und Autor Ronen Steinke in einem lesenswerten Artikel berichtet hatte.

Vielmehr legt der Autor seinen Schwerpunkt auf das Thema „Beobachtung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz“. Anhand sechs exemplarischer „Fallstudien“ von beobachteten Individuen und Gruppierungen wird der Leser angeregt, sich selbst ein Urteil zu bilden, inwieweit ihm die jeweilige Verfassungsschutz-Beobachtung gerechtfertigt erscheint.
Das Erfrischende an Brodkorbs Buch ist, dass der Sozialdemokrat ohne ideologische Scheuklappen vorgegangen ist: Er traf sich ebenso mit einem Bodo Ramelow wie mit einer Alice Weidel, dem linken Bürgerrechtler Rolf Gössner ebenso wie mit dem „Kopf der Neurechten“, Götz Kubitschek aus Schnellroda. Über die politische Ausrichtung seiner Interviewpartner trifft der Autor kein moralisches Werturteil – ihm geht es um den Versuch einer objektiven Einschätzung, ob die Verfassungsschutz-Beobachtung gerechtfertigt ist, ob die vom Verfassungsschutz beanstandeten Äußerungen der Beobachtungsobjekte tatsächlich „staatsgefährdende Bestrebungen“ sind, und mit welchen begrifflichen Voraussetzungen das Bundesamt seine Aktivitäten legitimiert. Es ist die klassische Herangehensweise eines Philosophen: Er möchte zunächst einmal die zugrundeliegenden Begriffe klären - und den Versuch unternehmen, das Denken der “Beobachtungsobjekte” des Verfassungsschutzes hermeneutisch zu verstehen, statt nur auf “Trigger-Begriffe” zu reagieren.
So fuhr Brodkorb, der ehemalige SPD-Minister, für sein Buch nach Schnellroda, um sich dort mit Götz Kubitschek, Ellen Kositza und Caroline Sommerfeld, den Leitfiguren des sogenannten „Instituts für Staatspolitik“ (IfS), einem der wichtigsten Think Tanks der neurechten Szene, zu treffen, und über deren Beobachtung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz zu sprechen. Sehr unterhaltsam ist hierbei die Schilderung der Anekdote, wie Brodkorb – Mitbegründer von „Endstation rechts“, einem Anti-Neonaziprojekt in Mecklenburg-Vorpommern, der eigentlich über jeden Verdacht erhaben sein müsste, als “Rechtsradikaler” zu gelten – vor dem Haus von Götz Kubitschek in Schnellroda von Antifa-Aktivisten fotografiert wurde, die dort täglich Gäste des IfS zur “Feindmarkierung” dokumentieren. Fotos von ihm, so vermutete Brodkorb, würden nun wohl auch durchs Netz zirkulieren.

Brodkorb nähert sich unvoreingenommen der Frage an, ob eine Autorin wie Caroline Sommerfeld aus dem Umfeld des Instituts für Staatspolitik (IfS) und der “Identitären Bewegung” von Martin Sellner, die mit Begriffen wie „Abstammungsdeutschen“, „Passdeutschen“ und „Volksseelendeutschen“ hantiert, dass jedem mitte-links sozialisierten “Normalbürger” augenblicklich mulmig wird – vom Verfassungsschutz überhaupt inhaltlich korrekt verstanden wurde. Er kommt zur Auffassung: Der Verfassungsschutz hat Sommerfeld falsch verstanden. Der Verfassungsschutz wirft ihr ein biologistisches Volksverständnis vor, während ihr Begriff von “Volksseelendeutsche” eindeutig “Abstammungsdeutsche” und “Passdeutsche” mit einschließt. Beide könnten “Volksseelendeutsche” sein, wenn sie sich mit Werten, die die deutsche Kultur in ihren Augen ausmachten, identifizierten. Das heißt, Sommerfelds Staatsverständnis sei eben nicht biologistisch. Man mag Begriffe wie “Volksseelendeutsche” geschmacklos und rechtsesoterisch finden - mit dem Vorwurf eines biologistischen Staatsverständnisses habe der Verfassungsschutz Sommerfeld schlichtweg missverstanden - oder bewusst missverstehen wollen. Fakt sei, dass solche absichtlichen oder unabsichtlichen Missverständnisse dazu führten, dass Menschen zu Unrecht in den Beobachtungsbereich des Verfassungsschutzes gezogen würden, so Brodkorb. Die Fehleinschätzungen seien systematischer Natur: Eine Einschätzung, wann ein besagtes Gesinnungsvergehen vorliegt, liegt im Gutdünken einer politisch nicht neutralen Behörde, die sich ihrerseits keiner transparenten Kontrolle unterziehen muss.
Juristische Auseinandersetzungen mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz ob der Rechtmäßigkeit der eigenen Beobachtung zögen sich teilweise jahre- bis jahrzehntelang, seien für die Betroffenen zermürbend und verschlängen Unsummen von Geld. Insbesondere letzterer Aspekt stellt für Brodkorb eine Machtasymmetrie dar: Während der Staat über geradezu unbegrenzte Mittel verfüge, sich die besten Anwälte des Landes zu leisten, seien die Mittel der ins Visier geratenen Bürger begrenzt.
Verfassungsschützer gefangen in Pawlowschen Reiz-Reaktionsmustern
Allein bestimmte Begriffe würden dabei verlässliche „Reiz-Reaktionsmuster“ à la Pawlowsche Konditionierung bei den Verfassungsschützern auslösen: Um im Visier des Verfassungsschutzes zu landen, reichte es schon, Begriffe wie „Volk“ auf “verdächtige Art” zu benutzen. Ironischerweise ein Begriff, auf dem unser Grundgesetz beruht, der in großen Lettern auf dem Reichstagsgebäude prangt und der in unterschiedlichen Lebensfeldern, von der Alltagssprache, über die Rechtslehre bis hin zu den Kulturwissenschaften, zahlreichen Bedeutungsdimensionen unterworfen ist. Brodkorb geht es nicht darum, dem Gedankengut einer Sommerfeld oder eines Kubitscheks eine „Absolution“ zu erteilen – sondern auf einer fairen, unvoreingenommenen Grundlage festzustellen, ob der gegen sie vorgebrachte Vorwurf einer “verfassungswidrigen Bestrebung” stichhaltig bewiesen werden kann.
Für mich war es sehr interessant, von einem SPD-Mann das Denken des “Institut für Staatspolitik” (IfS) in Schnellroda oder Martin Wagener, einem rechtskonservativen Professor für Internationale Politik, der als Hochschullehrer bei der Hochschule des Bundes suspendiert wurde, erklärt zu bekommen. Menschen, die Begriffe wie „Volksseelendeutsche“ in ihrem regulären Wortschatz führen, haben in mir bislang nicht den Wunsch ausgelöst, mich näher mit ihnen beschäftigen zu wollen. Brodkorb lässt sich von der, wie er es beschreibt, “martialischen Sprache” und “rechts-anthroposophischem” Pathos nicht abschrecken. Im Rahmen seiner Analyse war für ihn entscheidend, was mit dem Gesagten konkret gemeint ist – und ob politische „Bestrebungen“ im Sinne von Handlungsvorbereitungen, die den Staat gefährden könnten, vorliegen. Für die von ihm betrachteten Fälle konnte Brodkorb die Beweislage des Verfassungsschutzes widerlegen, wobei stark davon auszugehen ist, dass diese “Fehler” struktureller Natur sind. Für tatsächliche Gefährdungen der Demokratie würde in Brodkorbs Augen bereits das Strafgesetzbuch eine hinreichende Bewertungsgrundlage darstellen - einen Verfassungsschutz heutiger Prägung bräuchte es daher nicht.
Auf Grundlage seiner sechs Fallstudien leitet Brodkorb einige interessante Thesen über das Bundesamt für Verfassungsschutz ab, die ich im Folgenden kurz umreißen möchte.
Ein Verfassungsschutz, der seine Bürger unter Generalverdacht stellt, ist in westlichen Demokratien ein Unikum – und daher obsolet
Ein Inlandsgeheimdienst, der unbescholtene Bürger noch vor einer Strafbarkeit aufgrund bloßer „potenzieller Gesinnungsverbrechen“ ausspäht, ist in einer westlichen Demokratie einzigartig. Laut Brodkorb hätte eine solche Behörde in den ersten Jahren der jungen, fragilen Republik der Nachkriegsjahre, wo teilweise noch Alt-Nazis in das neue System „reintegriert“ wurden und staatsgefährdende Umtriebe nicht vollkommen undenkbar waren, im deutschlandspezifischen Kontext vielleicht noch Sinn ergeben - ironischerweise befanden sich damals jedoch einige dieser Alt-Nazis in der Spitze des Verfassungsschutzes selbst.
Inzwischen sei die Aufgabenstellung des Verfassungsschutzes jedoch eindeutig überholt: Er sei zu einem politischen Instrument verkommen und könne von jeder Regierung missbraucht werden, die gerade am Hebel sitzt. Durch die in Deutschland historisch einzigartige Aufgabenbeschreibung der Behörde, nicht erst im Umfeld tatsächlich nachweisbarer strafbarer Handlungen, sondern bereits „präventiv“ tätig zu werden, hätte diese sich inzwischen längst zu einer „Gesinnungs-Verfolgungsbehörde“ entwickelt. Anlehnungen an Orwells '1984' - auch wenn diese teilweise schon inflationär bemüht würden - drängten sich beim Bundesamt für Verfassungsschutz in den Augen des Autors unweigerlich auf.
Gedankenverbrecher präventiv isolieren: “Zersetzung” als Parallele zwischen Verfassungsschutz und Staatssicherheit der DDR
Gerade im Osten fühlten sich dieser Tage viele Menschen an die DDR erinnert. Nicht ohne Grund: Einen “Delegitimierungs-Paragrafen” gab es laut Brotkorb damals bereits auch schon: Dieser nannte sich “staatsfeindliche Hetze”. Und noch eine weitere Parallele zwischen dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR und Bundesamt für Verfassungsschutz der BRD sei auffällig und beunruhigend: Beide zielten methodisch darauf ab, als “gefährlich” eingestufte Personen präventiv sozial zu isolieren, deren öffentlichen Ruf zu zerstören, deren Organisationen zu unterwandern und diese von innen heraus zu zerstören. In der DDR hieß das “Zersetzung” - beschrieben in der berüchtigten “Richtlinie 1/76”, nachzulesen im Stasi-Unterlagenarchiv.
Diese ungute Tradition des DDR-Inlandsgeheimdienstes führe das Bundesamt für Verfassungsschutz laut Brotkorb nun strukturell fort: Die Erwähnung von Personen oder Personengruppen in den alljährlich erscheinenden Verfassungsschutzberichten hätte bereits eine stigmatisierende und sozial isolierende Wirkung, die auch vollends beabsichtigt sei. Eine vollständige “Isolierung” von “Gefährdern” in der Gesellschaft gelänge dem Verfassungsschutz aber nicht allein: Hierbei bedürfe es noch einer aktiven und beherzten Mithilfe der “Zivilgesellschaft”. Mit dem Begriff “Zivilgesellschaft”, wie der Verfassungsschutz ihn versteht, ist sowohl jeder einzelne Bürger gemeint, als auch ein undurchsichtiges Geflecht aus Nichtregierungsorganisationen und Faktenchecker-Portalen, die scheinbar unabhängig daherkommen, jedoch oft aus staatlichen Zuschüssen finanziert werden und sich wie Pressesprecher der Bundesregierung gerieren, aber angeblich für “die Zivilgesellschaft” stehen. Die Methoden der Zersetzung mögen heute andere sein - die Ziele jedoch sind vergleichbar mit denen der Staatssicherheit der DDR: Als “Gefährder” eingestufte Menschen durch Brandmarkung und Rufschädigung präventiv und kollektiv sozial zu isolieren.
In den Corona-Jahren wurde der Ausbau der Behörde zur Gesinnungspolizei massiv vorangetrieben
Der Autor beschreibt zwei „Schlüsselmomente“ im Jahr 2021, mit denen das Bundesamt für Verfassungsschutz seinen Kompetenzbereich massiv ausgedehnt hätte: Zum einen die Vorstellung der neuen „Gummi“-Beobachtungskategorie „Verfassungsrelevante Delegitimierung des Staates“ am 15. Juni 2021 auf einer Bundespressekonferenz durch den damaligen Innenminister Horst Seehofer und Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang. Auf dieser ersten Pressekonferenz hieß die Beobachtungskategorie noch “Demokratiefeindliche und/ oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates”. Ab dem Verfassungsschutz-Bericht 2021 wurde sie unter dem ebenfalls sperrigen Titel “Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates” gefasst. Mit dieser neuen Beobachtungs-Kategorie, so Brodkorb, wurde fernab jedweder medialen Skandalisierung regierungskritisches Denken von bislang unbescholtenen Bürgern zum Beobachtungsobjekt erklärt. Damit sei Tür und Tor geöffnet worden, im Zweifel so gut wie jeden Bürger überwachen zu können.
Kurz darauf folgte die Änderung des Verfassungsschutzgesetzes vom 05. Juli 2021 im Bundestag. Laut Brodkorb sei vielen Abgeordneten wohl gar nicht vollends klar gewesen, wofür sie dort eigentlich abgestimmt hätten: In der Gesetzesänderung wurde beschlossen, dass fortan auch „Einzelpersonen“, nicht nur ganze Gruppierungen, zum Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes werden können.
Diese zwei Stellschrauben im Jahr 2021 in Kombination - die bewusst vage gehaltene, neue Beobachtungskategorie, sowie die Zulässigkeit der Beobachtung von Einzelpersonen - hätten die Entwicklung des Verfassungsschutzes hin zu einer “Gesinnungs-Prüfungsbehörde” maßgeblich vorangetrieben. Auch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, sowie die damit verbundene Einrichtung sogenannter „Meldestellen“ auf Bundes- und Betriebsebene, sowie Online-Meldeportale, in denen Bürger ihre Mitbürger rund um die Uhr wegen “Hassverbrechen” oder staatsgefährdendem Verhalten melden können, zählt Brodkorb zu den besorgniserregenden Auswüchsen dieser neuen Entwicklung.
Durch die Einschüchterung regulärer Bürger - da die neue Beobachtungskategorie “Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates” so vage gehalten sei, dass bereits bloße Kritik am Staat, sowie Satire oder Polemik darunter fallen könnten - müsste sich das Bundesamt für Verfassungsschutz den Vorwurf gefallen lassen, mit seinem Verhalten selbst die freiheitlich demokratische Grundordnung zu „delegitimieren“, nämlich die Meinungsfreiheit, die ein sehr hohes Gut in einer Demokratie darstellt. Die angeblichen “Beschützer der Verfassung” würden durch ihren Generalverdacht gegenüber Bürgern selbst zu Gefährdern und Delegitimierern der Verfassung.
Verfassungsüberschreitungen des Verfassungsschutzes lassen sich nicht mehr aufarbeiten. Die Behörde lässt sich nur noch abschaffen.
Brodkorb hält das Bundesamt für Verfassungsschutz für nicht reformierbar, da Fälle wie Bodo Ramelow und Rolf Gössner, die nachgewiesenermaßen jahrzehntelang zu Unrecht beobachtet wurden, nur die sichtbare Spitze des Eisbergs darstellten. Sie seien nur deshalb öffentlich sichtbar geworden, weil die Betroffenen sich juristisch gewehrt hätten. In den Schubladen des Amtes lägen jedoch abertausende weiterer solcher Fälle. Die Behörde sei diesbezüglich zu keiner Fehlerkultur fähig, da jedes Eingeständnis eines solchen Falles einen ganzen „Rattenschwanz“ von anderen Fällen nach ähnlichem Muster nach sich ziehen würde.
Brodkorb macht sich keine Illusionen darüber, dass seine Forderung, den Verfassungsschutz abzuschaffen, nicht gerade dem politischen Zeitgeist entspricht. Allein die Enwicklung der Mitarbeiterzahlen der Behörde - nur auf Bundesebene, Landesämter für Verfassungsschutz ausgenommen – wuchs die Behörde von gerade mal 100 Mitarbeitern in den 1950er Jahren, auf 2000 Mitarbeiter im Jahr 2002, bis hin zu 4000 Mitarbeitern im Jahr 2022. Genau darin liege laut Brodkorb jedoch eine Gefahr: Aus dem Schutz des Staates vor Verfassungsfeinden drohe ein „Verfassungsschutzstaat“ zu werden, in dem sich der Einzelne niemals sicher sein kann, wann er in den Beobachtungsbereich der Behörde gerate.
Läuft man, in dem man dezidierte Kritik am Bundesamt für Verfassungsschutz übt, eigentlich nicht automatisch Gefahr, selbst als “Delegitimierer des Staates” eingestuft und in den Beobachtungsbereich der Behörde gezogen zu werden? Zumindest die offizielle Antwort hierauf lautet Nein - wenn man der in Brodkorbs Buch beschriebenen, sehr interessanten Urteilsbegründung des Verwaltungsgerichts Köln in der Causa Rolf Gössner folgt:
“Während der Verfassungsschutz tatsächlich unterstellte, Gössner setze sich für die Abschaffung des Verfassungsschutzes ein, um gezielt auf die “Schwächung der wehrhaften Demokratie” hinzuarbeiten, wies das Verwaltungsgericht Köln diese Sicht als unbelegt zurück und erteilte den Verfassungsschützern Nachhilfe in Verfassungsrecht. Die Forderung nach Abschaffung des Verfassungsschutzes könne schon deshalb nicht verfassungswidrig sein, weil ‘die Existenz der Verfassungsschutzbehörden in ihrer konkreten Form kein Element der freiheitlich demokratischen Grundordnung darstelle. Der Verfassungsschutz soll zwar die Verfassung schützen, zählt aber selbst nicht zu ihren Schutzobjekten. Darüber hinaus sei Kritik an der Verfassung und ihren wesentlichen Elementen ebenso erlaubt wie die Forderung, tragende Bestandteile der freiheitlich demokratischen Grundordnung zu ändern’. Auch in den folgenden Gerichtsinstanzen sollten diese Selbstverständlichkeiten immer wieder eine gerichtliche Bestätigung erfahren.” (S. 83/ 84)
Ergo: Das Bundesamt für Verfassungsschutz darf legal kritisiert, und auch dessen Abschaffung darf ganz legal gefordert werden, da es zwar die Aufgabe hat, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu schützen, aber selbst kein Element ebenjener darstellt.
Brodkorb ist mit seiner Forderung einer Abschaffung des Bundesamts für Verfassungsschutz nicht allein: Unterstützt wird er unter anderem von dem Rechtsprofessor Volker Boehme-Nessler, der auch das Vorwort zu Brodkorbs Buch verfasst hat. Der SZ-Journalist und Verfassungsschutz-Kenner Ronen Steinke (Buch “Verfassungsschutz”) kommt auf Grundlage seiner Recherchen zur gleichen Schlussfolgerung. Auch der Politikwissenschaftler Claus Leggewie, sowie der Jurist Horst Meier teilen die Forderung seit Jahrzehnten. In einem Punkt seiner Argumentation geht Brodkorb allerdings weiter als Leggewie und Meier: Beide sprechen sich dafür aus, die bisherige Aufgabenstellung des Verfassungsschutzes nicht gänzlich abzuschaffen, sondern an eine “Organisation aus der Zivilgesellschaft” “nach Art der Amadeu-Antonio-Stiftung” zu übertragen. Wer sich einmal mit der politischen Neutralität von Organisationen der Amadeu-Antonio-Stiftung, CeMAS, Correctiv, HateAid und dergleichen beschäftigt hat, wird vermutlich genau wie Brodkorb zu dem Schluss kommen, dass es keine gute Idee wäre, vorgeblich “zivilgesellschaftliche” Organisationen zukünftig anstelle des Verfassungsschutzes mit Verfassungsschutz-ähnlichen Kompetenzen auszustatten. Brodkorb lässt sich daher auf keine Kompromisse ein: Der Verfassungsschutz als Aufgabenbestimmung - als das präventive Bespitzeln von Bürgern noch vor Auftreten einer Strafbarkeit - muss in seinen Augen ganz weg.
Fazit
Ich halte Brodkorbs Buch - insbesondere in Zeiten, in denen sich das Misstrauen von Politik und Medien gegenüber unbescholtenen Bürgern und deren angeblichen „Gedankenverbrechen“ auf einem Allzeithoch befindet - für erfrischend mutig und konträr zum Zeitgeist. Es ist sachlich fundiert und stringent argumentiert. Auch strategisch betrachtet ist es als Gewinn anzusehen, dass ausgerechnet ein ehemaliger SPD-Politiker - dessen Partei momentan von der staatlichen Verfolgung missliebiger politischer Konkurrenz durch den Verfassungsschutz eigentlich ganz besonders profitiert - die Abschaffung der Behörde fordert. Damit holt Brodkorb eine wichtige, traditionell linke Forderung in die gesellschaftliche Mitte zurück - und überlässt diese nicht der AfD. Brodkorbs Buch ist ein beherztes Plädoyer dafür, Deutschland endlich auf den Standard einer modernen westlichen Demokratie im 21. Jahrhundert zu heben. Auf Grundlage meiner eigenen Recherchen über das Bundesamt für Verfassungsschutz schließe ich mich seiner Forderung nach einer Abschaffung der Behörde vollumfänglich an und empfehle das Buch wärmstens.
Weitere Empfehlungen für eine tiefergehende Beschäftigung mit dem Problem-Komplex “Verfassungsschutz”
1) Weiterführende Informationen zur Methode der “Zersetzung” - der von Brodkorb aufgezeigten Parallele zwischen dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR und dem Bundesamt für Verfassungsschutz. Holger Richter: Die Operative Psychologie des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Mabuse Verlag, 2020.
2) Kritik am Verfassungsschutz aus linker Perspektive, mit Fokus auf die Problematik der V-Leute. Auch der Journalist und Autor Ronen Steinke plädiert für die Abschaffung der Behörde, fokussiert sich jedoch eher auf die Tätigkeiten von H.G. Maaßen als Chef der Behörde, der rückblickend eher noch als das “kleinere Übel” wirkt. Ronen Steinke: Verfassungsschutz. Wie der Geheimdienst Politik macht. Berlin Verlag, 2023.
3) Fundierte Kritik am Verfassungsschutz aus der Linken: Sensationeller, einstündiger Vortrag von Anne Roth 2011 auf dem CCC, dem Kongress des “Chaos Computer Clubs”, Titel: “Best of Verfassungsschutz: Der Verfassungsschutz schützt die Verfassung, wie Zitronenfalter Zitronen falten”
Video auf YouTube | Video auf der Seite des CCC
4) Über die Rolle der V-Leute - exemplarisch am Beispiel des berüchtigten V-Mannes Peter Urbach, der die RAF und die Schwester-Organisation “Bewegung 2. Juni” mit Sprengstoff und Waffen versorgt hatte, berichtet der Ex-Terrorist Bommi Baumann in diesem sehr erhellenden Interview. Dabei erzählt er, wie der Staat gewalttätige Organisationen in einem gewissen Maß sogar frei agieren lässt, um mithilfe dieser “Strategie der Spannung” die Legitimation dafür zu schaffen, den Polizeiapparat aufzurüsten und eine ganz neue Sicherheitsarchitektur hochzuziehen - wie in den 1970er Jahren in der BRD infolge des RAF-Terrors geschehen.
5) Sehenswerter Dokumentarfilm über das V-Leute-System, das im Ersten ausgestrahlt wurde: V-Mann Land - Spitzel im Staatsauftrag (2015) von Katja Riha. In der Doku kommt neben vielen ehemaligen V-Leuten, die das System massiv infrage stellen, auch die verstorbene, legendäre Grünen-Politiker Hans-Christian “Gebt das Hanf frei” Ströbele zu Wort, der sich bis zu seinem Tod vehement für die Abschaffung des Verfassungsschutzes eingesetzt hat.
6) Ein Blick über den nationalen Tellerrand hinaus, Themenkomplex “Agent Provokateure” - ein Phänomen, das nicht nu hierzulande bei Protesten eingesetzt, aber von offiziellen Stellen gerne geleugnet wird. “Agent Provokateure” - gezielt staatlicherseits eingesetzte Störer - dienen dazu, friedliche Proteste gezielt eskalieren zu lassen, um ihnen dadurch den Rückhalt der Öffentlichkeit zu entziehen und staatliche Gewalt zu ihrer Niederschlagung zu rechtfertigen. Dokumentarfilm "Gipfelstürmer - Die blutigen Tage von Genua" (2002)
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Autoimmunerkrankung der BRD nach Ende des Kalten Krieges
A very interesting article. I had to translate it, so my understanding may not be complete.
The idea a government agency responsible for state morals could then invent entire conversations with nominal input - and then to act against the state (ie, the citizens) is what we have seen play out right across the world. The author of the book and Aya Velazquez are right - once a state department malfunctions and it has the power to resist correction, it must be removed.