Faktencheck der ZEIT-Retrospektive zum "Sturm auf den Reichstag"
Zwölf Autoren waren an der vierseitigen ZEIT-Titelstory zum "Sturm auf den Reichstag" beteiligt, anlässlich des dritten Jahrestags des Ereignisses. Ein Kommentar und Faktencheck.
Heute ist der dritte Jahrestag des berüchtigten „Sturmes auf den Reichstag“: Vor drei Jahren, am 29. August 2020, wurden die Treppen des Reichstagsgebäudes von Reichsbürgern besetzt. Die ZEIT widmete dem Ereignis eine vierseitige Retrospektive. Zwölf Autoren wirkten an dem ambitioniert wirkenden Versuch einer Geschichtsschreibung über das Ereignis mit. Den roten Faden bilden Versatzstücke aus Interviews mit Protagonisten des Reichstagssturmes, die die Autoren ausfindig machen konnten - wohlgemerkt jenen, die überhaupt bereit waren, mit ZEIT-Journalisten zu sprechen. Spoiler: Es waren nicht viele. Der Artikel ist dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, ein aufschlussreiches Zeitdokument. Kommentar und Faktencheck zur ZEIT-Titelstory.
Ein neuer Leitartikel der ZEIT Online zum “Sturm auf den Reichstag” ist erschienen - der Versuch einer Geschichtsschreibung über das Ereignis. Eine sorgfältige Hintergrundrecherche stand dabei augenscheinlich nicht im Vordergrund. Stattdessen stützt sich der Artikel auf quasi-heroische Interviews mit den gefährlichen Reichstagsstürmern: Es wird berichtet, man habe 133 Beteiligte des Reichstagssturmes kontaktiert, die sich mithilfe der Antifa-nahen Recherchegruppe Friedensdemo Watch identifizieren ließen. Von diesen 133 hätten sich 45 per Mail, telefonisch oder per Messenger-Nachricht bei den ZEIT-Journalisten zurückgemeldet. Mit 13 Personen habe man sich anschließend zu einem persönlichen Gespräch getroffen.
Das Ergebnis erscheint angesichts des großen Rechercheaufwands eher bescheiden: 13 Personen brachen den telefonischen Kontaktversuch sofort ab, weil sie nicht mit ZEIT-Journalisten reden wollten. Unter den 15, die sich auf ein Gespräch einließen, befanden sich die Bühnenrednerin Tamara Kirschbaum, die zur Treppenbesetzung aufgerufen hatte und demnächst ihr Buch zum “Sturm auf den Reichstag” verkaufen will, ihr Begleiter Gunnar Wunsch (gegenüber der ZEIT: Gunar Wünsch), der Rechtsextreme Nikolai Nerling, der Ex-NPDler und Veranstalter der Reichsbürgerbühne, Rüdiger Hoffmann, ein Rentnerehepaar, ein Friseur, ein NPD-Politiker, ein KfZ-Mechaniker, ein Querdenken-naher Videostreamer, ein AfD-Securitymann, eine Pferdetrainerin und ein Pferderennenveranstalter.
Große Teile des Artikels handeln von gescheiterten Gesprächsversuchen mit Protagonisten des “Sturmes”, die unbestreitbar Unterhaltungswert haben, aber nicht wesentlich zum Erkenntnisgewinn beitragen. Selbst diejenigen, die bereit waren, mit den ZEIT-Journalisten zu reden, antworteten oft trotzig mit Aussagen wie: „Wir würden es wieder tun“. Für die ZEIT sind solche vermeintlich gescheiterten Interviews dennoch perfektes Material; denn die Kernbotschaft, die sie ihren Lesern vermitteln will, lautet: Der gefährliche Terrorist und Demokratiefeind lauert nebenan. Der ganz normale Bürger - dein Nachbar! - könnte ein Staatsfeind sein. Das freundliche, harmlos erscheinende Rentnerehepaar etwa, das dir letzte Woche noch Kaffee und Erdbeertorte serviert hat, könnte beim Reichstagssturm dabei gewesen sein - denn Staatsfeind sein ist neuer Volkssport. Die Frage nach dem Warum stellt die ZEIT-Retrospektive nicht. Für sie ist jeder “Staatsfeind” auch automatisch “Demokratiefeind” - ganz so, als wären Staat und Demokratie ein und dasselbe.
Der großangelegte Versuch einer Aufarbeitung des Reichstagssturmes ist dadurch unfreiwillig ein Spiegel des zerrütteten Verhältnisses zwischen einer Presse, deren Lieblingsbeschäftigung es geworden ist, Bürger zu dämonisieren - und den von ihr dämonisierten Bürgern. In dieser Hinsicht stellt der ZEIT-Artikel durchaus ein interessantes Zeitdokument dar. Etwas ärgerlich und vermeidbar gewesen wären einige unsauber recherchierte Behauptungen im Artikel, die im Folgenden einem kleinen Faktencheck unterzogen werden sollen.
ZEIT-Behauptung 1: Die Berliner Polizeipräsidentin Barbara Slowik war verantwortlich für die gescheiterte Verbotsverfügung
Laut ZEIT steht die Berliner Polizeipräsidentin Barbara Slowik hinter der gescheiterten Verbotsverfügung vom 26. August 2020. Wahr ist, dass diese zwar formal von der Berliner Polizei ausging, jedoch auf Anweisung von Berlins damaligem Innensenator Andreas Geisel (SPD) erfolgte - einem entschiedenen Gegner der Corona-Demos. Geisel sagte damals:
„Ich bin nicht bereit, ein zweites Mal hinzunehmen, dass Berlin als Bühne für Corona-Leugner, Reichsbürger und Rechtsextremisten missbraucht wird.”
Das Berliner Verwaltungsgericht kassierte daraufhin Geisels schlampige Verbotsverfügung, weil sie politisch begründet war. Die Berliner Polizei ist dem Berliner Senat unterstellt. Andreas Geisel war somit oberster Dienstherr für das Management des 29. August 2020, und verantwortlich für die gescheiterte Verbotsverfügung. Die ZEIT-Autoren hätten mehreren Leitmedien-Artikeln entnehmen können, dass Andreas Geisel, und nicht die ausführende Polizeipräsidentin Barbara Slowik hinter der Verbotsverfügung stand.
Andreas Geisels politische Niederlage im Hinblick auf die gescheiterte Verbotsverfügung ist zentral für die Hintergründe zum Sturm auf den Reichstag. Es lag im Falle Geisels durchaus das Motiv vor, seinen gescheiterten Demo-Verbotsvorstoß rehabilitiert zu sehen. Nach dem Sturm war Geisel mit seiner zuvor erfolglosen Maskenpflicht-Forderung auf Demos schlussendlich erfolgreich. Geisel konnte demnach politisches Kapital aus dem Ereignis ziehen - und künftig Demos mit der Begründung, dass dort voraussichtlich die Maskenpflicht verletzt würde, verbieten.
In der vorliegenden ZEIT-Retrospektive zum Sturm auf den Reichstag fällt der Name Andreas Geisel kein einziges Mal.
ZEIT-Behauptung 2: Die Polizei hätte im Vorfeld nichts von Stürmungsplänen gewusst
Die ZEIT behauptet, die Sicherheitsbeauftragten des Bundestags und die Polizei hätten nichts von Stürmungsplänen gewusst. Auch diese oft kolportierte Legende lässt sich leicht widerlegen - ironischerweise mit einem Artikel der ZEIT Online selbst, vom 31. August 2020. Die ZEIT schrieb damals:
“Im Internet gab es Tage vor der Demonstration Aufrufe, das Gebäude zu stürmen, alternativ das Kanzleramt. Davon wusste der Verfassungsschutz, davon wusste auch die Berliner Polizei.”
Vielleicht hätten die zwölf Autoren der aktuellen ZEIT-Titelstory die hauseigene Berichterstattung zum Sturm auf den Reichstag gründlicher studieren sollen.
Weitere Quellen belegen, dass die Polizei im Vorfeld über Stürmungspläne informiert war: Zeugen wie der Querdenken-Organisator Nils Wehner, informierten die Polizei im Vorfeld des 29. August darüber und baten sie, entsprechende Versuche im Auge zu behalten.
Die Stürmungspläne wurden sogar in einer extra dazu eingerichteten Telegram-Gruppe namens "Sturm auf den Reichstag” öffentlich kommuniziert.
Auch auf Twitter/ X wurden bereits vor dem 01.08., sowie vor dem 29.08., Pläne zur Stürmung des Reichstags durch Reichsbürger von Antifa-nahen Accounts alarmiert diskutiert. Der Aktivist Christoph Kastius, der die Telegram-Gruppe “Sturm auf den Reichstag” betrieb, lud auf seinem inzwischen gelöschten YouTube-Kanal Anonymous Berlin ein Promo-Video für einen Sturm auf den Reichstag mit Guy-Fawkes-Maske hoch. In einem anderen Promo-Video für den Sturm posierte er mit einer Sense über der Schulter.
Spätestens am 29. August kann die Polizei sich nicht mehr herausreden, nichts von Stürmungsplänen gewusst zu haben, wie der vierstündige Livestream der Reichsbürger-Bühnenveranstaltung beweist: Mehrere Redner vor dem Reichstag kündigten über den gesamten Nachmittag hinweg immer wieder an, dass heute der große Tag gekommen sei, an dem sie sich "ihr Haus” zurückholen würden. Hier eine kleine Auswahl von Verlautbarungen, die über den Nachmittag hinweg fielen:
Veranstalter Rüdiger Hoffmann, gegen 16 Uhr: “Die Polizei riegelt ab, dass wir hier nicht herauskommen. Sie wollen die Regierung schützen. Sie wollen alles tun, dass ihr nicht auf das Parlament kommt! Deswegen tut alles, geht alle in eure sozialen Netzwerke, geht in eure Telefone, ruft auf, kommt alle zum Platz!”
Attila Hildmann, gegen 16 Uhr: “Und dieses Gebäude hier ist dem deutschen Volk gewidmet, und wisst ihr was? Spätestens am Abend werden wir es zeigen!“
Eine Rednerin, gegen 17 Uhr: „Das ist unser Haus! Jedem einzelnen von euch gehört dieses Haus! Das steht dort, dem deutschen Volke. Das seid ihr! (.) Ich hoffe tatsächlich, dass wir heute Abend feiern können, oder spätestens morgen, aber noch ist das nicht soweit. Ich hoffe, dass hier geöffnet wird und die Freunde von dort [Straße des 17. Juni] den Weg hierher finden werden, auf diese Wiese, vor dieses Haus, wo es sich entscheiden wird!”
Eine weitere Rednerin, gegen 17.30 Uhr: „Es wird schlimm werden, wenn diese Wiese heute nicht voll wird, und wir nicht in unser Parlament gehen können, wenn hier weiter rumgeeiert wird. (.) Es geht um unser Leben, wenn wir das heute nicht schaffen, sind wir am Arsch!"
Die Lautsprecher der Bühne beschallten die gesamte Reichstagswiese, mehrere Versammlungsteilnehmer beklagten sich über die zu hohe Lautstärke. Es ist undenkbar, dass die Verlautbarungen von der Polizei nicht zur Kenntnis genommen wurden. Es hätte spätestens danach eine deutlich sichtbare Polizeipräsenz vor dem Reichstag aufgebaut werden müssen. Dass dies unterblieb, muss als de facto Beihilfe zum Sturm auf den Reichstag gewertet werden - ob bewusst oder als Nebenprodukt grober Fahrlässigkeit, ist noch immer eine offene Frage.
Dass die ZEIT in ihrer Retrospektive über den Reichstagssturm weiterhin die Erzählung kolportiert, die Polizei hätte nichts von Stürmungsplänen gewusst, ist falsch und widerspricht sich zudem sogar mit ihrer hauseigenen Berichterstattung von vor drei Jahren. Der Abzug der Polizeikette vor dem Reichstag, Stunden vor dem Sturm, wird von der ZEIT mit keinem Wort erwähnt. Im Gegenteil: Wie wir im Folgenden sehen werden, unterstützt sie weiterhin das Narrativ, dort hätten einzelne, heldenhafte Polizisten gestanden.
ZEIT-Behauptung 3: Die Legende von den fünf Polizisten und einer Polizistin vor dem Reichstag
Die ZEIT spricht von “fünf Polizisten und der einen Polizistin, die sich ihr [der Menge] am Eingang des Reichstagsgebäudes entgegenstellen”. Zahlreiche Videostreams aus unterschiedlichen Winkeln belegen jedoch, dass sich ab spätestens 16.30 Uhr kein einziger Polizeibeamter und keine Polizeibeamtin mehr unmittelbar vor dem Reichstag befanden. Dort stand über Stunden hinweg schlichtweg niemand.
Zwei Polizisten, die sich direkt hinter der Reichsbürger-Bühne befanden, entfernten sich unauffällig vom Ort des Geschehens, als der Sturm begann. Wie der ZEIT-Artikel einräumt, sah der gefeierte Polizeihauptkommissar Karsten Bonack den Sturm zunächst nur "aus dem Augenwinkel", weil er sich zu diesem Zeitpunkt mit seiner Einsatzhundertschaft in der Scheidemannstraße, südlich vom Reichstag, befand. Er rannte erst los, als die Treppe bereits voller Menschen war. Der medialen Berichterstattung zum 29. August zufolge war er einer von drei Helden, die damals den Reichstag ganz alleine beschützt haben sollen.
Nun also die ”wunderbare Polizistenverdopplung” zum dritten Jubiläum des Sturms: Die ZEIT-Retrospektive spricht von “fünf Polizisten und einer Polizistin”, die angeblich vor dem Gebäude gestanden hätten. Karsten Bonack rannte jedoch nicht nur mit fünf Kollegen, sondern gleich seiner ganzen Einsatzhundertschaft los. Im viral gegangen Zusammenschnitt des Livestreams des rechten Bloggers Aktivist Mann von Antifa Zeckenbiss sind drei Polizisten, einer davon Karsten Bonack, prominent zu sehen. Dies war der Ursprung der Legende der “heldenhaften Drei”. Die Legende wurde durch die Ehrung der drei Polizisten im Schloss Bellevue durch den Bundespräsidenten, sowie im Bundestag, bewusst ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Es ist Teil der nationalen Legendenbildung zum 29. August geworden.
Karsten Bonack, der verantwortliche Polizeihauptkommissar für den Abschnitt rund um den Reichstag, handelte mit der über Stunden ungesicherten Reichstagstreppe im Mindesten fahrlässig. Es erscheint indes schwer vorstellbar, dass er nicht auf Anweisung handelte, zumal es bei Polizeieinsätzen klare Befehlsketten gibt. Vor dem Sturm war er mit seiner Einsatzhundertschaft in der Scheidemannstraße in Bereitschaft positioniert und hörte ein Funkgerät ab.
Von der ZEIT wird Bonack weiterhin als Held und Zeitzeuge gefeiert. Kritische Fragen zur fehlenden Polizeikette ab 16.30 Uhr vor dem Reichstag, wo er noch bis 16 Uhr mit elf weiteren Kollegen stand, werden nicht gestellt. Bonack darf weiterhin sein Schauermärchen von der Gefahr wehender Reichsflaggen im Scheidemann-Fenster verbreiten, ohne dass ihm in der Zwischenzeit mal jemand das Schutzkonzept des deutschen Bundestags erklärt hätte, sowie, dass die Gefahr eines Eindringens in das Gebäude am 29. August zu keinem Zeitpunkt bestand.
ZEIT-Behauptung 4: Der Sturm auf den Reichstag sei eine "Zäsur in der deutschen Geschichte"
Die ZEIT behauptet, der Sturm auf den Reichstag sei eine “Zäsur in der deutschen Geschichte” und zitiert den Historiker Mergel mit der Aussage, was vor drei Jahren in Berlin passierte, wäre ein “Traditionsbruch”. Das stimmt so nicht. Eine “Zäsur” bedeutet, ein Ereignis ist ohne Präzedenzfall. Eine unangekündigte und illegale Besetzung der Reichstagstreppen hatte es aber schon einmal gegeben: 2010, nach einer großen Anti-Atom-Demo im Regierungsviertel mit hunderttausenden Teilnehmern. Die Bilder waren praktisch identisch, nur die Fahnen waren andere. Ein politischer Skandal blieb 2010 jedoch völlig aus. Im Gegenteil - so schrieb der Weser Kurier:
”Und noch einen kleinen Triumph feiern die Atomkraftgegner. Obwohl Polizei und Verwaltungsgericht die gewünschte Kundgebung auf der Wiese vor dem Reichstag nicht erlaubt hatten, stürmten am Nachmittag trotzdem tausende Menschen über die rot-weißen Absperrgitter auf den Rasen und besetzen die Treppe vor dem Parlament. Die Polizei lässt sie weitgehend gewähren.”
Dass der "grüne Sturm auf den Reichstag" 2010 im Zeit Online-Artikel mit keinem Wort erwähnt wird, muss als Desinformation durch Auslassung bezeichnet werden. Die Botschaft, die dem Leser übermittelt werden soll, lautet: Nur Rechte haben schonmal den Reichstag gestürmt. Dies ist belegbar falsch.
Auch, dass der Reichstag noch nie zuvor für politische Agenden vereinnahmt worden wäre, ist falsch. Im Jahr 2019 warfen sich Klimaaktivisten in einer Parlamentssitzung während einer Schäuble-Rede spontan auf den Boden und stellten sich tot. Zwei Monate vor dem Sturm auf den Reichstag kletterten Greenpeace-Aktivisten auf das Westtor des Reichstags und befestigten dort ein Transparent. Ein Klimaaktivist löste einen Feueralarm im Paul-Löbe-Haus aus. Er wurde zwar verurteilt - aber wo blieb der politische Aufschrei, angesichts einer politischen Vereinnahmung von Gebäuden des demokratisch gewählten deutschen Bundestages für politische Partikulärziele?
Der Historiker Mergel, der gegenüber der ZEIT den Reichstagssturm als einen "Traditionsbruch" bezeichnete, sollte vielleicht mal sein Archiv sortieren. Die “grüne Reichstagstreppenbesetzung" aus dem Jahr 2010, die ebenfalls unangemeldet und somit illegal war, scheint an ihm, sowie an den Kollegen von der ZEIT vollkommen vorbeigegangen zu sein.
ZEIT-Behauptung 5: Der Sturm auf den Reichstag sei international betrachtet eine Art Präzedenzfall (sinngemäß)
Die ZEIT behauptet, Parlamentsstürme habe es bisher eher in “fragilen Staaten” wie “Serbien, Brasilien, Armenien und Georgien” gegeben. Der Kapitolsturm läge vier Monate NACH dem Sturm auf den Reichstag. Zwischen den Zeilen schwingt hier mit, dass der Sturm auf den Reichstag der “erste seiner Art” gewesen sei: Der erste Parlamentssturm in einer “stabilen Demokratie”. Zudem habe es vor 20 Jahren kaum Parlamentsstürme gegeben.
Die Aussage, dass Parlamentsstürme in den letzten 20 Jahren global zugenommen hätten, ist zunächst korrekt. Die ZEIT verschweigt jedoch - oder möglicherweise ist ihr nicht bewusst - dass der Sturm auf den Reichstag keinesfalls der erste seiner Art war, sondern er eingebettet war in eine Serie nach ähnlichem Muster verlaufender Parlamentsstürme im Zusammenhang weltweiter Proteste gegen die Corona-Maßnahmen. Der erste davon fand am 01.05.2020 in Michigan/USA statt. Der “kleine Kapitolsturm” richtete sich gegen den Corona-Lockdown der Gouverneurin Gretchen Whittmer. Auch beim darauffolgenden Parlamentssturm in Serbien ging es um die Corona-Maßnahmen. Als dritter der Serie folgte der Sturm auf den Reichstag, dann der Kapitolsturm, dann der “Sturm” auf das Bundeshaus in Bern/ Schweiz, der Sturm auf den Parlamentspalast in Bukarest/ Rumänien, auf das Parlament in Sofia/ Bulgarien, den Parlamentsdistrikt in Wellington Neuseeland, und schlussendlich auf den Kongress in Brasilia/ Brasilien. Gemeinsam ist all diesen Stürmen, dass sie zu den Protesten einer “neuen globalen Rechten” gezählt werden.
Die Tatsache, dass sich der Sturm auf den Reichstag einfügt in ein internationales Muster, und mitnichten einen Präzedenzfall darstellt, wird von der ZEIT falsch dargestellt. Die Bedeutung des Sturmes auf den Reichstag wird überhöht, obwohl er strenggenommen nichts Besonderes darstellt. Eine interessante Frage wäre es, wem es genutzt haben könnte, dass Corona-Maßnahmen-Kritiker international mithilfe von Parlamentsstürmen als “nicht demokratiefähig” geframt werden konnten. Die Worthülsen der Betroffenheit von Politikern in jeweiligen Ländern ähneln sich auffällig: “Angriff auf die Demokratie”, “Terroristen”, “Staatsfeinde”, “Faschisten” oder “rote Linie überschritten”.
Eindeutige Parallelen zwischen dem Sturm auf den Reichstag, das Kapitol und die Regierungsgebäude in Brasilia bestehen darin, dass sich die verantwortlichen Sicherheitsbeamte an den entsprechenden Tagen bemerkenswert fahrlässig verhielten. Sowohl in den USA, als auch in Brasilien, wurde das fragwürdige Verhalten der Sicherheitsleute infolge geleakter Überwachungsvideos zum Gegenstand nationaler Debatten. In Brasilien wurde sogar kürzlich eine eigene Untersuchungskommission zu den offenen Fragen rund um den 08. Januar eingerichtet (CPMI do 08 de Janeiro), deren Sitzungen alle Bürger transparent und ungeschnitten verfolgen können. In Deutschland hingegen zieht man die beliebte Vogel-Strauss-Methode und eine politische Legendenbildung vor.
Im Folgenden eine Liste von Parlamentsstürmen und politischen Vereinnahmungen von Parlamenten weltweit (unvollständig):
Maßnahmenkritische und “rechte” Parlamentsstürme und -vereinnahmungen 2020-2023
Angeblicher Sturm auf das “Hohe Haus in Wien, Österreich | 2
16.09.2021 Angeblicher Sturm auf das Bundeshaus in Bern, Schweiz | 2 | 3
21.12.2021 Sturm auf den Parlamentspalast in Bukarest, Rumänien | 2 | 3 | 4 | 5 | 6
18.01.2022 Sturm auf das Parlamentsgebäude in Sofia, Bulgarien | 2
02.03.2022 Gewaltsame Parlamentsproteste in Neuseeland | Bereits am 16.12.2021
08.01.2023 Sturm auf Parlament, Obersten Gerichtshof und Plenarsaal in Brasilia, Brasilien
Andere Parlamentsstürme und -vereinnahmungen 2010-2023
18.10.2010 Besetzung der Reichstagstreppe durch Anti-Atom-AktivistInnen
2014 Sturm auf das Parlament in Burkina Faso wegen einer Verfassungsänderung, die die 27-jährige Amtszeit des Präsidenten weiter ausdehnen sollte
28.04.2017 Sturm auf das Parlament in Mazedonien, nachdem ein Albaner Sprecher des Parlaments werden sollte
16.03.2019 Sturm auf das Parlament in Albanien wegen Korruption und organisiertem Verbrechen in der Regierung
04.06.2019 BILD titelt “Klima-Aktivisten stürmen den Bundestag”stellen sich während Schäuble- Rede tot, aus Protest gegen die Klimapolitik der BuReg| ZEIT titelt: So überraschten Klima-Aktivistinnen mit ihrem Protest den Bundestag | 3 | 4
09.12.2019 Feuerwehrleute und Mitarbeiter des Gesundheitssystems stürmen das katalanische Parlament für bessere Arbeitsbedingungen
10.11.2020 Sturm auf das Parlament in Armenien aus Wut über den Nagorno-Karabakh-Deal
21.09.2021 Sturm auf das Parlament in Namibia, aus Protest gegen die zu gering ausgefallenen deutschen Reparationszahlen für den Völkermord an den Herero und Nama | 2
03.07.2022 Greenpeace-Aktivisten klettern auf Berliner Reichstag und hissen ein Transparent
15.11.2021 Versuchter Sturm auf das Parlament in Tunesien nachdem Präsident Saied das Parlament entmachtet hatte
01.07.2022 Sturm auf das Parlament in Tobruk, Libyen wegen schlechten Lebensbedingungen
26.07.2022 Klimaaktivisten stürmen das Parlament in Canberra, Australien
28.07.2022 Sturm auf das Parlament im Irak, als Zeichen der Unterstützung für den Klerikalen Moqtada al-Sakr, wegen einer politischen Krise und Korruption
10.07.2022 Sturm auf den Präsidentenpalast in Sri Lanka, nach einer massiven Wirtschafts- und Hungerkrise
02.09.2022 Extinction Rebellion Aktivisten kleben sich an den Sprecher Stuhl im House of Commons in UK, um eine Bürgerversammlung für die Bewältigung der Klimakrise zu fordern
Parlamentsstürme als neurechte Symbolstrategie abzutun, mit dem Sturm auf den Reichstag als Präzedenzfall, hält einer globalen Betrachtung des Phänomens nicht stand. Parlamente werden aus unterschiedlichsten Gründen gestürmt: Im Falle Sri Lankas, aus Armut und Hunger. Im Falle Namibias, wegen zu geringer Reparationszahlungen der Deutschen für den an den Herero und Nama begangenen Genozid. Im Falle Kataloniens, wegen schlechter Arbeitsbedingungen von Feuerwehrleuten und Krankenpflegern. In Deutschland 2010, aus Protest gegen die Atompolitik der Regierung Merkel.
Über die Frage, ob Parlamentsstürme in einer Demokratie in Ausnahmefällen ihre Berechtigung haben, kann man streiten - sie jedoch pauschal in die rechte Ecke zu stellen, funktioniert im globalen Maßstab nicht. Es sei denn, man verschließt aktiv die Augen vor der Wirklichkeit. Fakt ist, dass sowohl linke als auch rechte Bewegungen, als auch solche, die sich diesem Spektrum vollkommen entziehen, gelegentlich Parlamente stürmen. Im globalen Maßstab ist der Sturm auf den Reichstag - bei dem noch nicht einmal ein Fuß in ein Regierungsgebäude gesetzt wurde - ein eher harmloses Ereignis.
ZEIT-Behauptung 6: Es gab aus logistischen Gründen nur so wenige Verurteilungen
Diese Behauptung ist mindestens fragwürdig. Die Protagonisten von der Reichstagstreppe hätten ebenso wie bereits schon am Nachmittag auf der Reichstagswiese, als es gegen 15.30 Uhr zu einem "Ausbruch" der Versammlungsteilnehmer auf die Reichstagswiese kam, bequem von der Polizei gekesselt werden können. Dieselben personellen Kapazitäten der Polizei, und sogar noch mehr, da weitere Kräfte zum Reichstag hinzugezogen wurden, wären auch zwischen 19 und 20 Uhr vorhanden gewesen. De facto wurden seitens der Polizei jedoch keine Anstalten gemacht, jemanden festzunehmen, obwohl sich die am Sturm Beteiligten weiterhin dort aufhielten. Auch Tamara Kirschbaum und Gunnar Wunsch konnten sich weiterhin ungehindert auf dem Versammlungsgelände bewegen. Gunnar Wunsch wurde sogar im freundlichen Zwiegespräch mit Polizeibeamten gesichtet.
Was die ZEIT ihren Lesern verschweigt
Beim Zitat “Der Sturm war geplant” wird nicht kritisch nachgehakt
Die ZEIT zitiert Gunnar Wunsch, dass der Sturm geplant gewesen sei - einzig und allein der Zeitpunkt sei noch unklar gewesen. Bei dieser Aussage Wunschs hätten die ZEIT-Journalisten unbedingt nachhaken müssen, denn sie widerspricht sich mit Aussagen, die Wunsch und Kirschbaum kurz nach dem Sturm in diversen Interviews tätigten. Damals hatten sie behauptet, es habe sich um eine "vollkommen spontane Aktion” gehandelt. Auch die Frage, warum Kirschbaum und Wunsch gegen 17.30 Uhr zusammen mit etwa 20 Menschen weitere Menschenmassen vor den Reichstag rekrutierten, wird von der ZEIT nicht gestellt.
Die Kamera und Polizisten auf dem Dach des Paul-Löbe-Hauses
Die ZEIT verschweigt ihren Lesern, dass am 29. August 2020 bereits ab 10 Uhr morgens eine Richtmikrofon-Kamera mit Blick auf den Reichstag auf dem Dach des gegenüberliegenden Paul-Löbe-Hauses installiert worden war, und unmittelbar nach dem Sturm sieben Polizeibeamte - zwei davon in Zivil - von dort aus die gesamte Szenerie beobachteten. Warum hatte man schon am Morgen die Notwendigkeit gesehen, eine Kamera in Richtung Reichstag aufzustellen? Warum erwähnt die ZEIT diese Kamera nicht und stellt keine Fragen zu ihrer Funktion?
Tamara Kirschbaums und Gunnar Wunschs “Polizeikontakte”
Tamara Kirschbaum hatte in zahlreichen Interviews behauptet, die ganze Aktion sei "mit der Polizei abgesprochen gewesen, sie hätten auch dorthin Kontakte". Sie blieb in mehreren Interviews konsistent bei dieser Erzählung - nicht ohne einen gewissen Stolz. Dass es Absprachen zwischen Kirschbaum und der Polizei gegeben haben könnte, erscheint völlig nicht aus der Luft gegriffen, da die Polizei in den Videostreams vor dem Sturm tatsächlich im Gespräch mit Tamara Kirschbaum zu sehen ist - ebenso wie ihr Partner Gunnar Wunsch nach der Aktion.
Dass es mögliche Absprachen zwischen Polizei und Veranstaltern gegeben haben könnte, wird auch deutlich am Beispiel der abgenommenen Helme. Von der Bühne aus riefen mehrere Redner immer wieder, die Polizei habe die Helme abgenommen, da sie auf der Seite der Demonstranten stünde - selbiges sei auch vor der Russischen Botschaft der Fall. Warum trug die Polizei auf der Reichstagswiese im Laufe des 29. August 2020 tatsächlich die Helme vor dem Bauch, während dies von der Bühne als Beweis für die Komplizenschaft der Polizei behauptet wurde?
Warum unterstützte die Polizei durch das demonstrative „Vor dem Bauch tragen“ der Helme die Behauptung der Reichsbürger, die Polizei stünde auf der Seite der Demonstranten? Warum trugen nur jene Polizisten ihre Helme vor dem Bauch, die von der Versammlungsfläche aus zu sehen waren? Warum trug Karsten Bonacks Einsatzhundertschaft, die sich zum Zeitpunkt des Sturmes in Bereitschaftsposition in der Scheidemannstraße befand, optisch verdeckt durch Einsatzfahrzeuge, ihre Helme hingegen auf dem Kopf?
Die Tatsache, dass die Reichsbürger-Bühne illegal stattfand
Dass die Reichsbürger-Bühne an diesem Tag illegal von Innensenator Geisel im befriedeten Bereich geduldet wurde - TROTZ eindeutiger Verlautbarungen geplanter Stürmungen im Vorfeld - wird in ZEIT-Retrospektive überhaupt nicht erwähnt. Für die Bühnenveranstaltung lag keine Sondergenehmigung des BMI vor. Die Aufhebung des Demoverbots einen Tag zuvor bezog sich nämlich nicht auf den befriedeten Bereich rund um Reichstag. Hier hätte eine Sondergenehmigung des BMI eingeholt werden müssen. Die Reichsbürger-Veranstaltung fand demnach am 29. August illegal statt, unter der Duldung von Berlins Innensenator Andreas Geisel. Warum lässt der ZEIT-Artikel diese Tatsache aus?
“Haben sich diejenigen, denen der Sturm galt, etwas überlegt, um den Reichstag BESSER zu schützen?"
Die ZEIT fragt, ob sich diejenigen, denen der Sturm galt, etwas überlegt hätten, um den Reichstag zukünftig besser zu schützen. Die Suggestivfrage richtet sich an die Parlamentarier. Frage zurück an die ZEIT-Journalisten: Wie soll eines der bestbewachten Gebäude Deutschlands, das bereits mit doppeltem Panzerglas, Sicherheitsschleusen, sowie einer 200 Mann starken Sicherheitsarmee ausgestattet ist, noch besser geschützt werden? Gab es beim Reichstagssturm überhaupt den Hauch einer Chance für die Treppenbesetzer, in das Gebäude hinein zu gelangen? Fakt ist, dass dies unmöglich gewesen wäre. Das evozierte Bild der “Gefahr” wehender Reichsflaggen im berühmten Westfenster der Republikausrufung durch Philipp Scheidemann ist reines Gaslighting - eine Angst-Erzählung, die in den Köpfen verankert werden soll. Die Frage ist, warum die ZEIT-Autoren dieses unrealistische Narrativ, ohne den geringsten Beweis einer realen Bedrohung, weiter unkritisch kolportieren.
Die “Behauptung” einer staatlichen Inszenierung
Die ZEIT stellt das Narrativ, der Sturm könnte staatlich inszeniert worden sein, als “Behauptung” ehemaliger Reichstagsstürmer dar. Die Einschätzung wird jedoch nicht nur von ehemals Beteiligten, sondern auch von fachlicher Seite her getroffen. Professor Thomas Wüppesahl vom Berufsverband Kritische Polizisten hielt eine maßgebliche Beteiligung von "V-Leuten" am Sturm auf den Reichstag für "sehr wahrscheinlich". Dies sei laut Wüppesahl auch gar nicht anders denkbar, da die V-Leute an diesem Tag schon alleine deshalb mit nach Berlin fahren mussten, um in ihren jeweiligen Ortsgruppen nicht “dumm aufzufallen”. Wüppesahl lehrte als Dozent auf Polizeihochschulen.
Der Sprecher des Bundesinnenministeriums, Steve Alter, hatte auf einer Bundespressekonferenz auf Nachfrage die Beteiligung von V-Leuten am 29. August nicht ausgeschlossen.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz stützte sich bei der Erschaffung seiner neuen Beobachtungskategorie „Verfassungsrelevante Delegitimierung des Staates“ auf den Sturm auf den Reichstag. Die neue Kategorie ermöglichte ihm fortan, Regierungskritiker zu beobachten. Der Verfassungsschutz hätte demnach eine gute Motivlage gehabt, ein solches Ereignis selbst zu fingieren. Trotz nachweisbarer Vorkommnisse dieser Art in der Vergangenheit - Celler Loch, Bewaffnung der RAF, NSU, NPD-Verbotsverfahren - wird eine mögliche Beteiligung des Bundesamtes für Verfassungsschutz am Sturm auf den Reichstag von den ZEIT-Autoren noch nicht einmal als Arbeitshypothese in Betracht gezogen.
Entmenschlichung und Pathologisierung Andersdenkender
Der Artikel bezeichnet politisch missliebige Meinungen als ein “antidemokratisches Virus”, das sich “vom radikalen Rand der Gesellschaft an den Rand der politischen Mitte frisst”. Nicht vom Einzelnen ginge die Gefahr aus, sondern einer “Infektion durch die Gruppe”. Eine verbale Pathologisierung Andersdenkender ist stets ein alarmierendes Signal, da sie meist von totalitären Regimes zur Eliminierung politischer Gegner verwendet wird. Der verbalen Entmenschlichung folgt in der Regel die politische Verfolgung.
Hier werden die Reichstagsstürmer im engeren Sinne, sowie Corona-Maßnahmen-Kritiker im weiteren Sinne pauschal selbst zum Virus erklärt. Die problematische Rhetorik stellt in Deutschland leider keinen Einzelfall dar, sondern reiht sich ein in problematische Bezeichnungen wie “Blinddarm”, “asoziale Trittbrettfahrer”, “Ratten”, “ein bisschen wie Hitler” und ähnlichen Entmenschlichungen, mit denen Kritiker des Regierungsnarrativs in den letzten drei Jahren wiederholt belegt wurden. Einer derartigen, verbalen Eskalation im politischen Diskurs ist aus demokratischer Sicht entschieden zu widersprechen.
Fazit
Die retrospektive ZEIT-Titelstory über den Sturm auf den Reichstag ist ein Lehrstück über nationale Legendenbildung. Sie ist ein Versuch, die “offizielle Version” des Ereignisses festzuschreiben. Dabei werden zahlreiche Fakten falsch dargestellt und zentrale Informationen ausgelassen. Weite Teile des Artikels widmen sich einer subtilen Dämonisierung der Beteiligten. Der Versuch, mit den Widerspenstigen persönlich ins Gespräch zu kommen, wird heroisiert. Die Erzählung vom „Angriff auf die Demokratie“ wird ohne kritische Evaluierung reifiziert. Der Heldenkult rund um die beteiligten Polizeibeamten wird verfestigt.
Das offensichtliche Behördenversagen an diesem Tag wird nicht angeprangert, die These einer möglichen Beteiligung des Bundesamtes für Verfassungsschutz in das Reich der „Reichsbürgerlegenden“ verbannt. Der Artikel verweilt im Tenor ostentativer Ratlosigkeit und Betroffenheit über das Ereignis: Ratlosigkeit über die Motivlage, Ratlosigkeit über die geringe Anzahl an Festnahmen, Ratlosigkeit darüber, wem der Sturm politisch genutzt haben könnte, Betroffenheit, weil “unsere Demokratie angegriffen wurde”. Der Artikel kolportiert das Narrativ, eine Gefährdung der Demokratie manifestiere sich primär durch eine Besetzung von Parlamentstreppen. Dass eine Gefährdung der Demokratie möglicherweise von ganz anderen Vektoren ausgehen könnte, ist die größte Lücke, die dieses Glanzstück des Lückenjournalismus hinterlässt.
Mit wohligem Unterschichten-Voyeurismus steigen die Autoren aus ihrem journalistischen Elfenbeinturm herab, um mit den gefährlichen Staatsfeinden direkt ins Gespräch zu kommen. Die einzige Botschaft, die der Artikel hierbei übermitteln will, ist die eines wohligen Schauderns, wie hoffnungslos verloren diese Menschen doch sind. Wie gefährlich banal und durchschnittlich diese neuen Terroristen daherkommen, und man sich selbst beim Erdbeerkuchen-servierenden, freundlichen alten Ehepaar nie sicher sein könnte, ob man es nicht doch mit gefährlichen Staatsfeinden zu tun hat. Das Bild des “Staatsfeindes von nebenan” wird verfestigt.
Wer mehr zu den Hintergründen des Sturmes auf den Reichstag erfahren möchte, dem sei mein Artikel, sowie mein 90-minütiger Dokumentarfilm dazu ans Herz gelegt. Wer politische Großereignisse im öffentlichen Raum verstehen will, kommt mit Betroffenheitsfloskeln à la ZEIT nicht weiter - sondern muss sich die Frage stellen, wem ein Ereignis politisch genutzt hat.
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Eine sehr gute Dekonstruktion und Klarstellung.
Allgemein scheint für die etablierten Medien zu gelten: je grösser die Artikel aufgemacht sind, je mehr "Autoren" daran beteiligt sind - desto weniger soll recherchiert, sondern nur manipuliert werden.
Wie immer sehr neutral/sachlich geschrieben und übersichtlich/ganzheitlich zusammengetragen.